26. Dezember 2016

Familie versteckte sich elf Monate vor den Terroristen

Die Familie von Bazhigla und Saratu Yakubu entkam knapp, als Boko-Haram-Terroristen ihr Dorf überfielen. Elf Monate versteckte sich die neunköpfige Familie unter Todesangst in Berghöhlen. Sicher fühlten sie sich erst, als sie das Flüchtlingscamp in Jos erreichten.

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Über 200 Vertriebene leben im Flüchtlingslager von Jos, das von der Stefanos Foundation geführt und von CSI mitfinanziert wird. Im Büro des Camps treffen die CSI-Vertreter Franco Majok und Reto Baliarda die gros­se Familie von Bazhigla und Saratu Yakubu. Das jüngste der sieben Kinder ist noch ein Säugling. Doch auch die älteste Tochter Ruth (17) ist bereits Mutter. Seit Mai 2016 sind sie alle in diesem Camp untergebracht. Das Ehepaar und die sieben Kinder werden hier versorgt. Trotzdem versucht Bazhigla (36), in der nahen Umgebung als Tagelöhnerin zu arbeiten, um etwas Geld zu verdienen. Ihr knapp 30 Jahre älterer Ehemann leidet an Tuberkulose und kann daher keine körperliche Arbeit verrichten.

Saratu sitzt still neben seiner Ehefrau, die klar und deutlich die Ereignisse der letzten Jahre schildert.

Flucht im letzten Moment

Bazhiglas Familie stammt aus der Kleinstadt Baga am Tschadsee im Bundesstaat Borno. Da immer mehr die Nachricht die Runde machte, Boko Haram würde sich dem Ort nähern, zog die Familie etwa 300 Kilometer in Richtung Süden nach Ngoshe. «Doch leider stellte sich heraus, dass die Sicherheitslage auch dort nicht besser war», seufzt die siebenfache Mutter. Im November 2013 attackierten die Dschihadisten Ngoshe zum ersten Mal. Die Dorfbevölkerung kam mit dem Schrecken und einer zerstörten Kirche davon. Boko Haram zog sich wieder zurück.

Ein halbes Jahr später wurde Ngoshe erneut von den Terroristen überfallen. Und diesmal wurde es wirklich gefährlich. «Lautes, ohrenbetäubendes Geschrei und Gewehrschüsse versetzten uns in Panik. Wir rannten davon und hatten Glück, dass wir als ganze Familie in die Berge fliehen konnten», berichtet Bazhigla.

Eine Zeit voller Unsicherheit

Die Familie kannte sich in den Bergen aus. Doch die Gefahr, von den Dschihadisten entdeckt zu werden, war dadurch noch lange nicht gebannt. Täglich beobachtete Saratu stundenlang, was sich in der Umgebung abspielte und ob sich Boko-Haram-Kämpfer ihnen nähern würden. Seine Frau Bazhigla betont dabei: «Es verging kein Tag, an dem wir nicht aus der Ferne sahen, wie Boko-Haram-Leute die Berghänge hinaufkletterten, um entkommene Menschen zu finden.» Normalerweise seien die Boko-Haram-Kämpfer nur tagsüber aktiv gewesen. Dennoch konnte man auch nachts einen Übergriff nicht ausschließen. Überdies musste Bazhiglas Familie immer darauf achten, alles mitzunehmen oder zu verstecken, wenn sie die Höhle verließen. Ansonsten hätten sie ihren Aufenthalt an Boko Haram verraten.

Ebenso musste die gestrandete Familie genau darauf achten, bei einem Umzug in eine andere Höhle alles mitzunehmen.

Wie lange sie in den Bergen und Höhlen ausharren musste, konnte Bazhiglas Familie natürlich nicht wissen. Um nicht zu verhungern, stand Saratu jeden Morgen früh auf und machte sich auf die Suche nach Essbarem. Das Wasser entnahm sie jeweils aus kleinen Felsbächlein und verwendete es nach dem Kochen als Trinkwasser für die Familie.

Ehemann blieb noch länger

Elf Monate lebte Bazhiglas Familie in ständiger Angst, von Boko Haram entdeckt zu werden. «Es gab keine Nacht, in der ich ruhig schlafen konnte», beschreibt sie die scheinbar nicht enden wollende Qual. Als sie im April 2015 aus der Ferne anhaltende Gewehrschüsse hörten, nahmen sie an, dass die Armee in die nahegelegene Stadt Gwoza vorgedrungen war. Die Familie schöpfte dadurch neuen Mut und wagte sich ins Flüchtlingslager nach Gwoza. Saratu blieb zunächst alleine in den Bergen zurück: «Wir wussten nicht, ob die Route nach Gwoza sicher war. Und Männer werden von Boko Haram sofort getötet», erklärt Bazhigla den Entscheid.

Gefahr noch nicht gebannt

Tatsächlich war Gwoza im März 2015 von der nigerianischen Armee zurückerobert worden. Dennoch gab es täglich Gefechte zwischen der Armee und den Extremisten. Um ihren Mann zu besuchen, nahm Bazhigla in dieser Zeit mehrmals den gefährlichen Weg vom Flüchtlingslager in Gwoza zu den Bergen auf sich. «Jedes Mal, wenn ich unterwegs war, hörte ich Gewehrschüsse», umschreibt sie die Gefahr, in der sie sich jeweils befand.

Zwiespältige Rolle der Armee

Nach zwei Monaten erreichte auch Saratu das Flüchtlingscamp. Dort blieb die Familie bis März 2016. Richtig aufatmen konnte sie dort jedoch nie. Dazu Bazhigla: «Wir waren die einzigen Christen und wurden von vielen Muslimen schikaniert. Zudem erhielten wir kaum genügend zu essen.» Die Armee empfahl der Familie schließlich, das Lager zu verlassen. Sie brachte die Familie nach Madagali und gab ihr Geld, mit dem sie ihre weitere Flucht über Mubi und Yola nach Jos bezahlen konnte.

Trotz der Unterstützung sind die Erfahrungen zwiespältig, die die Familie mit der Armee gemacht hat. Dass Bazhiglas älteste Tochter Ruth bereits Mutter ist, ist die Folge einer Vergewaltigung. Ein Soldat hatte im Lager von Gwoza die Schutzbedürftigkeit der Familie schamlos ausgenutzt und sich an Ruth vergangen.

Bazhigla ist dennoch dankbar, dass ihre Familie in Jos ein christliches Flüchtlingslager gefunden hat. «Das Leben hier ist besser als alles, was wir seit unserer Flucht aus Ngoshe erlebt hatten. Wir können endlich wieder ruhig schlafen und haben genug zu essen. « Die geflohene Großfamilie möchte vorläufig im Camp von Jos bleiben. Diesem Wunsch möchte die Lagerleitung der Stefanos Foundation auch nachkommen. «Wer bei uns bleiben möchte, kann das auch», versichert Peter Darong-Hwere von der Lagerleitung.

 

Reto Baliarda

 

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