05. Juni 2018

Nicaragua versinkt im Chaos

Nicaragua wird von einer Gewaltwelle der Regierungstruppen gegen das Volk heimgesucht. Über 100 Personen sind bereits ums Leben gekommen. Auch die CSI-Partner vor Ort sind tief besorgt über das brutale Vorgehen der Regierung.

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Auslöser für die Gewalt war die Ankündigung einer weiteren umstrittenen Reform der Sozialversicherung von Mitte April 2018 durch den Regierungschef, dem ehemaligen Revolutionsführer Daniel Ortega. Dabei hatte er die Reform nicht einmal der Legislative vorgelegt.

Grassierende Korruption

Bei seiner Ankündigung hatte Ortega jedoch nicht mit einer derart heftigen Reaktion der Bevölkerung gerechnet. Doch seit seiner Wiederwahl vor gut elf Jahren ist sein Amt geprägt von unzähligen korrupten Ereignissen: Willkürliche Enteignungen im Rahmen eines dubiosen Kanalprojekts, wiederholte Preiserhöhungen und Entlassungen im öffentlichen Sektor. Dazu kommen Behinderung einer ernsthaften Opposition, skrupellose Wahlmanipulation, schamlose Vetternwirtschaft sowie Kontrolle der Justiz oder auch ständige Erhöhung von Sozialabgaben bei gleichzeitiger Streichung von Sozialleistungen. Diese und viele weitere Punkte haben schon lange zu einem wachsenden Unmut in der Bevölkerung beigetragen.

Selbst der Unternehmerverband hält es nicht mehr für opportun, mit der Regierung gemeinsame Sache zu machen. Jahrelang hatten die Unternehmer – im Gegensatz zu dem mit Ortega verbündeten Venezuela – ungestört ihren Geschäften nachgehen können, während der Clan um Ortega sich ebenfalls mit oft unlauteren Mitteln bereicherte. Am 31. Mai 2018 rief der Unternehmerverband Cosep dazu auf, die gewaltsame Unterdrückung der Demonstrationen einzustellen und einen friedlichen Weg aus der Krise zu suchen. Damit stellten sich die Unternehmer in eine Reihe mit Oppositionsparteien, Menschenrechtsgruppen und internationalen Organisationen wie der Uno und der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), die ebenfalls Gewaltverzicht, Gespräche, Kundgebungsfreiheit und die Wiederherstellung der Medienfreiheit fordern.

Viele Tote und Verletzte – willkürliche Verhaftungen

Der Unmut in grossen Teilen der Bevölkerung, der sich jetzt so heftig Luft macht, hat sich im Lauf der Jahre angestaut. Die Proteste haben zwar Mitte April 2018 friedlich begonnen, doch sie wurden sogleich gewaltsam durch die Regierung bekämpft. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen sind bereits mehr als 100 Personen ums Leben gekommen. Unzählige, vor allem Studenten, wurden von der Polizei einfach verhaftet, ohne einen spezifischen Grund zu nennen. Viele gelten immer noch als vermisst.

Ortegas Rücktritt gefordert

Das Volk fühlt sich extrem unsicher, da jederzeit jeder verhaftet werden kann. In diesem Chaos werden im ganzen Land Plünderungen verzeichnet, unkontrollierte Gewalt macht sich zusätzlich breit. Landesweit wird nun der Rücktritt von Daniel Ortega und seiner Frau, der Vizepräsidentin Rosario Murillo, gefordert. Doch beide haben bereits angekündigt, sie würden nicht zurücktreten. Deshalb wird erwartet, dass bald das ganze Land stillstehen und es zu einem Putsch kommen wird.

«Konvent rund um die Uhr beobachtet»

Seit über 20 Jahren unterstützt Christian Solidarity International (CSI) in Nicaragua die Arbeit der Partner, die an vier verschiedenen Standorten mitten unter den Slumbewohnern wohnen. Täglich bieten sie über 400 Kindern und Betagten warme Mahlzeiten an, verteilen regelmässig Essenspakete und Medikamente an extrem arme Familien, vergeben Schuluniformen und Schulmaterial und führen zwei Horte, zwei Primarschulen sowie zwei Mädchenheime. Vor allem aber bringen sie mit ihrer liebevollen Art viel Sonnenschein und Hoffnung in den oft erbärmlichen Alltag der Slumbewohner.

Die gegenwärtigen Unruhen machen auch die sonst unerschrockenen Schwestertn zu schaffen. In einem Mail an CSI schreibt eine Schwester  besorgt: «Unsere jungen Studenten werden ermordet. Die Kirche wird angegriffen unter dem Vorwurf, sie würde sich auf die Seite der Studenten stellen. Hunderte von Studenten wurden entführt und bereits zum Teil getötet, unzählige werden vermisst. Momentan gilt es bereits als Delikt, überhaupt Student zu sein. Unsere Konvente werden rund um die Uhr beobachtet, um genau zu sehen, wer hinein- und hinausgeht. Häuser werden in Brand gesetzt, die Märkte geplündert.»

Betroffen schreibt eine Schwester auch über den traurigen Muttertag vom 30. Mai in der Hauptstadt Managua: «An diesem Tag gab es eine friedliche Demonstration von Müttern, welche ihre Kinder vermissen, die in den letzten Tagen von den Sicherheitskräften entführt worden sind. Plötzlich tauchte ein Grossaufgebot von Polizisten auf. Diese schossen in die Menschenmenge und trafen 19 Studenten tödlich, die den friedlichen Umzug anführten. Unzählige wurden verletzt.»

Auch sie befürchtet, das ganze Land zum Stillstand kommen wird.  Schon jetzt würden die Menschen an Hunger leiden, da alles lahmgelegt ist und sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen.» Die Schwestern gehören zu den wenigen Personen, die sich noch auf die Strasse wagen. Sie sammeln Essen und verteilen diese an die armen Familien. Einmal mehr sind sie diejenigen, die nahe bei der Bevölkerung sind und mit ihnen zusammen die schwierigen Zeiten durchleben.

 

Projektleiterin Nicaragua

 


 

Vom siegreichen Rebellenführer zum ungeliebten Präsidenten

Präsident Daniel Ortega hat die letzten 50 Jahre von Nicaragua wie kein anderer geprägt. In den 1960er-Jahren schloss er sich der links orientierten Guerillaorganisation «Frente Sandinista de Liberación (Sandinisten, FSLN)» an. Von 1967 bis 1974 war er inhaftiert und wurde anschliessend nach Kuba ausgeflogen. 1976 kehrte Ortega nach Nicaragua zurück und wurde einer der «Comandantes» der Sandinisten. Unter der militärischen Führung seines Bruders Humberto stürzten Ortega und andere FSLN-Mitglieder den damaligen Diktator Anastasio Somoza Debayle. Ab Juli 1979 regierte Ortega Nicaragua als Kopf einer Regierungsjunta. Von 1985 bis 1990 war er gewählter Staatspräsident von Nicaragua. Nach drei aufeinanderfolgenden Wahlniederlagen 1990, 1996 und 2001 wurde Daniel Ortega am 5. November 2006 wiedergewählt und am 6. November 2011 sowie am 7. November 2016 im Amt bestätigt. Nun hat er sein Land in eine tiefe Krise gestürzt.

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