25. August 2018

Zehn Jahre nach dem schlimmsten Massaker gegen Christen

Der Mord an Hindu-Führer Swami Laxmanananda Saraswati vom 23. August 2008 war der Auslöser fürs verheerendste Massaker gegen Christen in Indien mit 100 Toten, tausenden zerstörten Häusern und über 50‘000 Vertriebenen. Die tödlichen Angriffe begannen zwei Tage später, am 25. August 2008, und dauerten mehrere Tage an. Auch heute ist die Lage für religiöse Minderheiten in Indien kritisch. Ein Interview mit Anwältin Arora.

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CSI: Anwältin Arora, Erinnern Sie sich, wann und wie Sie vom Mord an den Hindu-Führer Laxmanananda Saraswati vor zehn Jahren erfuhren?

Anwältin Arora: Ja, ich hörte von seinem Tod in den Nachrichten, kurz nach dem Mord. Zudem riefen mich Freunde aus dem betroffenen Bundesstaat Odisha (damals Orissa) an. Einige Leute waren in das Haus des Swami eingedrungen und hatten ihn getötet.

Was löste sein Tod bei Ihnen aus?

Ich war schockiert über den brutalen Mord. Zugleich hatte ich Angst um die Christen in Kandhamal (Distrikt im Bundesstaat Odisha, in dem der Swami gewohnt hatte). Denn bereits ein Jahr zuvor hatte der Swami seine Anhänger zu gewaltsamen Übergriffen gegen Christen angestachelt (drei Tote). Ich war sehr besorgt, dass es diesmal heftigere Angriffe geben könnte.

Was sich leider bewahrheitete. Wie berichteten die Medien damals über die Ereignisse in Kandhamal?

Die nationalen Medien meldeten nur, dass der Swami getötet wurde. In der lokalen Presse von Odisha wurden Anschuldigungen von einheimischen Gruppen publiziert, die Christen für den Mord verantwortlich machten. Über das Massaker gegen die Christen wurde in den Medien nur oberflächlich berichtet. Bekannte aus Kandhamal erzählten mir, dass eine Nonne Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde und auch, dass einige Christen getötet wurden.

Wie lange dauerte es, bis die breite Bevölkerung über das Ausmass der Gewalt in Kandhamal informiert wurde?

Das volle Ausmass der Gewalt ist in der Bevölkerung bis heute nicht bekannt. Nur wenige Medien haben jemals einen Journalisten nach Kandhamal geschickt. Die Region ist zu abgelegen. Lediglich einige zivilgesellschaftliche Gruppen haben sich dafür eingesetzt, durch Umfragen mit Betroffenen vor Ort mehr über das Verbrechen herauszufinden.

Die Wahrheit über Kandhamal ist auch für Sie ein grosses Anliegen. Wie setzen Sie sich für die überlebenden Opfer des Massakers ein?

Zusammen mit anderen Anwälten richtete ich in Kandhamal ein Zentrum für juristischen Beistand ein. Wir halfen den Opfern, Strafanzeigen gegen die Angreifer einzureichen. Zudem arbeiteten wir mit Staatsanwälten zusammen, um die Fälle vor Gericht zu präsentieren. Ebenso beanstandeten wir beim Obergericht und Obersten Gericht das willkürliche Vorgehen des Staates, der die Hilfe und Kompensationszahlungen an die Opfer einschränken wollte. Schliesslich haben wir im Namen der Opfer Freisprüche für angeklagte Gewalttäter angefochten.  

Bis heute wurden nur wenige Hindu-Extremisten, die damals in Kandhamal die Christen attackierten, zu Freiheitsstrafen verurteilt. Was sagen Sie dazu?

Das stimmt mich sehr traurig. Die Gewaltverbrechen in Kandhamal haben unsägliches Leid hervorgebracht. Viele Opfer können zudem heute noch nicht in ihre Dörfer zurück. Und sie erfahren keine Gerechtigkeit.

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Kommt dazu, dass viele Zeugen ihre Aussagen gegen die Angreifer zurückgenommen haben, aus Furcht vor Vergeltung. Die Angst ist omnipräsent.

Für den Mord am Swami wurden sieben Christen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Beweislage gegen diese Männer ist sehr dünn und kommt mir fabriziert vor. Die Fälle sind beim Obergericht hängig. Wir hoffen, dass die angeschuldigten Christen Gerechtigkeit erfahren.

Wie denkt man heute in Indien über die Verbrechen in Kandhamal?

Zivilgesellschaftliche Gruppen, unabhängig von der Religion, verurteilen die Gewalt gegen Christen.

Wenigstens hat es seit Kandhamal 2008 in Indien keine religiöse Gewalt von dieser Tragweite mehr gegeben. Hat sich die Lage für Christen gebessert?

Nein, eher im Gegenteil, wenn wir die Ereignisse in Kandhamal ausklammern. In den letzten drei Jahren hat die religiöse Gewalt von Mobs in Indien um 28 Prozent zugenommen. 2017 wurden gemäss dem Innenministerium für interne Angelegenheiten 822 solcher Gewalttaten registriert. Dabei wurden 111 Menschen getötet und 2384 weitere verletzt.

Christliche Menschenrechtsorganisationen haben zudem in den letzten vier Jahren über 800 Übergriffe auf Christen dokumentiert. In 16 der 29 indischen Bundesstaaten werden Christen regelmässig attackiert. Am schlimmsten ist die Situation in Chhattisgarh, gefolgt von Tamil Nadu, Madhya Pradesh und Uttar Pradesh. In diesen vier Staaten werden 50 Prozent aller Angriffe auf Christen verübt.

Man kann also festhalten: In Odisha hat sich die Lage für Christen gebessert. Doch landesweit hat sie sich eindeutig verschlimmert.

Sind Sie zuversichtlich, dass in Indien aus dem Fall Kandhamal Lehren gezogen werden?

Ich hoffe es: Das Oberste Gericht hat nicht zuletzt im Hinblick auf Kandhamal festgehalten: «Die Minderheiten gehören ebenso zu Indien und der Schutz ihrer Religion ist als fundamentales Recht in der Verfassung verankert.» Der Staat muss schnell einschreiten, um die religiös motivierte Gewalt gegen Christen zu stoppen. Zudem muss die Kultur der Straflosigkeit überwunden werden. Täter müssen bestraft werden.

Wir Christen müssen enger mit anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, um die juristischen Abläufe und die Menschenrechtsgrundlagen besser zu verstehen. So stehen wir der religiösen Verfolgung nicht mehr hilflos gegenüber. Die Kirchen sollten den Opfern konsequent juristische Hilfe anbieten, um gegen die Täter vorzugehen.

Doch das Gesetz alleine genügt nicht, um das Gewaltproblem zu lösen. Wir Christen müssen uns gegen Lügen wehren, die uns verunglimpfen. Auch sollten wir uns mit den Taktiken von radikal-nationalistischen Gruppen befassen und in den sozialen Medien Berichte und Videos über Indiens kulturelle Vielfalt veröffentlichen.

Reto Baliarda

 

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Hilfe für die Gewaltopfer

Obwohl Maoisten den Mord an Hindu-Mönch Swami Laxmanananda Sarasvati gestanden haben, werden bis heute Christen für die Tat verantwortlich gemacht. Hindu-Extremisten reagierten mit beispielloser Gewalt gegen die Christen: Über 100 Christen wurden getötet und mehr als 54 000 vertrieben. Zudem wurden über 5600 Häuser und gut 400 Kirchen zerstört. Über 10’000 leben heute noch im Slumgebiet von Bhubaneswar, der Hauptstadt von Odisha

CSI hat sich von Beginn weg für die vertriebenen Gewaltopfer eingesetzt und im Wesentlichen folgende Hilfe geleistet:

  • Wiederaufbau von Häusern
  • Programme zur Generierung von Einkommen (Landwirtschaftsprojekte)
  • Führerausweise für junge Männer
  • Verkaufsstände von Essen auf der Strasse
  • Installationen von sanitären Anlagen
  • Gesundheitskampagnen
  • Mädchenheim für 67 Waisen und Halbwaisen (die ihre Eltern während den Angriffen verloren hatten)
  • Ausbildungsstätte für rund 300 benachteiligte Jugendliche im Gebiet von Kandhamal

 

 

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