23. Mai 2017

Als Augenzeuge in Syrien – Teil II

John Eibner von Christian Solidarity International (CSI) reiste seit Kriegsausbruch acht Mal nach Syrien, unter anderem nach Aleppo, Hasaka und Tartus. In einem dreiteiligen Interview berichtet er von seinen Eindrücken und formuliert Empfehlungen an die Schweizer Regierung.

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Teil II: Pest oder Cholera – Assad für viele Syrer das kleinere Übel als die intoleranten Islamisten

CSI: Der Westen bezeichnet seinen Einsatz in Syrien als Unterstützung für einen «Übergang zur Demokratie». Welche Chancen hat die Demokratie?

Dr. John Eibner: Eine Demokratie westlicher Prägung ist in weiter Ferne. Die stärksten politischen Kräfte in Syrien haben andere Ziele. Im aktuellen Kampf geht es nicht um Demokratie, sondern um das Überleben einer pluralistischen Gesellschaft. Ich spreche natürlich nicht von politischem Pluralismus, davon können die Leute nur träumen. Es gibt unter Assad aber religiösen Pluralismus und weitere Formen von sozialem Pluralismus. Die Bewegungsfreiheit der Frauen wird vom Staat kaum eingeschränkt und sie sind in der Wahl ihrer Kleidung weitgehend frei. Religiöse Minderheiten werden nicht per se verfolgt. Christen dürfen offen als Christen leben. Dasselbe gilt auch für Alawiten, Drusen, Schiiten und moderate Sunniten, die sich nicht dem Gesetz der islamischen Scharia unterwerfen wollen.

2014 traf ich eine sunnitische Muslimin. Auf die Frage, weshalb sie sich nicht den Aufständen anschliesse, antwortete sie verärgert: «Wenn diese Revolution erfolgreich ist, werde ich die soziale Freiheit verlieren, die ich jetzt habe. Politische Freiheit werde ich aber auch nicht bekommen.» Diese Einschätzung ist berechtigt. Die bewaffnete Opposition gegen Assad war von Anfang an islamistisch, nicht säkular. Das schliesst jeglichen religiösen Pluralismus von vornherein aus. Übernähmen die Rebellen die Macht, würden Nichtsunniten zu Bürgern zweiter Klasse, Frauen müssten sich nach Scharia-Normen kleiden und Homosexuelle würden verfolgt.

Aus zahlreichen Begegnungen in Syrien kann ich sagen, dass ein grosser Teil der syrischen Bevölkerung – wenn nicht gar die Mehrheit – einen Sturz Assads durch die Rebellengruppen ablehnt. Die Binnenflüchtlinge suchen fast ausschliesslich in Gebieten Zuflucht, die von Assad kontrolliert werden. Vor dem «Arabischen Frühling» war Syrien ein Land mit einer florierenden Privatwirtschaft, einem ausgezeichneten Bildungssystem und einem der besten Gesundheitswesen in der arabischen Welt. In den Jahren unmittelbar vor 2011 hatte Syrien über eine Million Flüchtlinge aus dem Irak aufgenommen. Man mag Assads Diktatur verurteilen – angesichts fehlender Demokratie zu Recht –, aber unter ihm gab es viel mehr sozialen Pluralismus als in jedem anderen mehrheitlich sunnitischen Land des Nahen Ostens.

Sie bezeichnen Assads Gegner als islamistische Extremisten. Die amerikanische Regierung unter Obama sagte, sie unterstütze moderate Rebellen.

Westliche Politiker und Journalisten können den Ausdruck «moderate Rebellen» so oft wiederholen, wie sie wollen – für die Bevölkerung, die unter dem Schutz der syrischen Armee lebt, haben diese Rebellen nichts Moderates an sich. Wenn der ehemalige US-Präsident Barack Obama eine Rebellengruppe als «moderat» bezeichnete, bedeutet das lediglich, dass sie sich bislang nicht gegen amerikanische Interessen gestellt hat. Die Bezeichnung hat nichts damit zu tun, wie sich diese Gruppe gegenüber der syrischen Bevölkerung verhält.

Wie bereits unter Ronald Reagan im Kalten Krieg in Afghanistan benutzen die USA bestehende dschihadistische Netzwerke zur Durchsetzung ihrer Interessen. Sie glaubten damals, die Dschihadisten über den Einfluss des verbündeten Saudi-Arabiens kontrollieren zu können. Aber das Resultat ist die Dominanz des Islamischen Staats und von al-Qaida. Die bewaffnete Opposition gegen Assad will in erster Linie eine sunnitische Vorherrschaft herstellen und diskriminierende Scharia-Normen einführen. Es mögen nicht alle Gruppen so extrem sein wie der Islamische Staat, aber praktisch alle wollen ihre Religion dem ganzen Land aufzwingen.

Nehmen wir die beiden christlichen Ortschaften Sadad und Maaloula: Beide waren kurzzeitig in Rebellenhand. Sie wurden nicht vom Islamischen Staat eingenommen, sondern von der sogenannt moderaten Freien Syrischen Armee und der al-Nusra-Front. Sowohl in Sadad als auch in Maaloula wurden mehrere Christen getötet und Kirchen geschändet. Wenn man sich das Gebiet anschaut, das von den verschiedenen Rebellengruppen – vom Mittelmeer bis in den Irak – beherrscht wird, dann merkt man: Das gesamte Gebiet ist religiös gesäubert. Ob das Gebiet nun von der Freien Syrischen Armee, der al-Nusra-Front, der Befreiungsarmee, der Islamischen Armee, der Südlichen Front, dem Islamischen Staat oder von wem auch immer beherrscht wird, spielt keine grosse Rolle. Die Situation ist mehr oder weniger die gleiche. Für die Menschen unter dem Schutz der syrischen Armee ist der sunnitische Dschihadismus das Hauptproblem. Der Islamische Staat ist nur ein Teil der gewalttätigen dschihadistischen Revolutionsbewegung, die eine sunnitische Vorherrschaft in Syrien errichten will. Anhänger der gleichen weitläufigen Bewegung töten «Ungläubige» in aller Welt – auch in Europa und den USA.

Manche sagen, Assad selber habe einen religiösen Konflikt gewollt, um sich als die einzige Alternative zu einem dschihadistischen Chaos darzustellen. Der Islamische Staat sei seine Schöpfung.

Das ist nicht sehr glaubwürdig. Es klingt wie ein Vorwurf aus der Regimewechsel-Propagandamaschinerie. Es ist zwar richtig, dass der Extremismus des Islamischen Staats Assad vielen als das kleinere Übel erscheinen lässt. Assad profitiert also in einer gewissen Weise vom Islamischen Staat. Assad profitiert auch davon, dass Washington und seine Verbündeten jetzt stärker gegen den Islamischen Staat als gegen ihn kämpfen. Aber daraus zu schliessen, dass Assad den Islamischen Staat geschaffen hat, ist reine Fantasie. Die modernen dschihadistischen Bewegungen wie der Islamische Staat entstanden, wie gesagt, schon in Afghanistan, wo sie von den USA und Saudi-Arabien im Dschihad gegen die Sowjets unterstützt wurden.

Russland ist im September 2015 in den Krieg eingetreten. Welche Reaktionen haben Sie dazu angetroffen?

Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, beurteilten das Eingreifen Russlands als sehr positiv. Ich war in den Gebieten unterwegs, die von der syrischen Armee kontrolliert werden. Die Leute waren besorgt, als die syrische Armee zurückgedrängt wurde und die Dschihadisten durch die verstärkten Waffenlieferungen der USA und ihrer islamistischen Verbündeten im Nahen Osten vorrückten.

Das Eingreifen Russlands lässt den Kampf der USA und ihrer Verbündeten gegen den Islamischen Staat für die Syrer in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Der Westen bombardierte den Islamischen Staat vor dem Eingreifen Russlands im September 2015 schon während anderthalb Jahren und trotzdem schien der Islamische Staat nicht wesentlich geschwächt. Man berichtete erst nach dem Eingreifen Russlands von Angriffen auf die Ölanlagen des Islamischen Staats – das heisst ja, dass sie anderthalb Jahre lang nicht angegriffen wurden. Die Leute hofften, dass die syrische Armee mit der russischen Luftunterstützung zumindest ihre Gebiete halten und vielleicht sogar vorrücken und ganz Aleppo zurückerobern kann. Das ist inzwischen tatsächlich geschehen.


Teil I: Unsere Sanktionen verschärfen die Flüchtlingskrise

Teil III: Zwischen Auslöschung und Wiederaufbau – Die Situation der Christen und Alawiten

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