24. September 2022

«Das bin ich meinen Urgrosseltern schuldig»

Die christlichen Aramäer sind heute noch traumatisiert durch die Erinnerung an die Gräueltaten der islamischen Osmanen. Ich möchte die Erinnerung wachhalten. Von Martin Halef

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten auf dem Staatsgebiet der heutigen Türkei über fünf Millionen indigene Christen: Armenier, Aramäer sowie griechisch-orthodoxe Christen. Über drei Millionen wurden auf staatlichen Befehl im letzten Jahrzehnt osmanischer Herrschaft (1912-1922) vernichtet, bei Massakern, auf Todesmärschen und durch Zwangsarbeit. Überleben hiess damals allzu oft: Zurücklassen der Schwachen und Kranken, der Sterbenden oder der Neugeborenen.

Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend Christen aus der Türkei und anderen Nahost-Staaten nach Europa gelangten, waren unter ihnen viele Überlebende des Genozids. Sie alle einte das Bedürfnis, an ihre ermordeten Vorfahren zu erinnern. Auch ich möchte dies tun. Das bin ich meinen Urgrosseltern schuldig.

Schweres Schicksal meiner Urgrosseltern

Mein Urgrossvater, Suvi Halef, wurde anlässlich der Mobilmachung im Morgengrauen des Ersten Weltkriegs zum Militärdienst gezwungen. Die letzte Nachricht von ihm kam von der russischen Grenze, wo er Zwangsarbeit beim Brücken- und Strassenbau leisten musste. Er kam nie mehr zurück.

Meine Urgrossmutter, Meryem Halef, blieb mit drei Kleinkindern, meinem Grossvater Görgis (6) und seinen beiden Brüdern Yahko (8) und Tuma (4) zurück, nachdem ihr Mann zum Militärdienst verpflichtet wurde. Sie kam bei der ersten Angriffswelle islamischer Horden auf die christliche Stadt Midyat um.

Die drei Kinder sind ins christliche Dorf Aynward geflohen und haben dort wie viele andere überlebt. Als Waisenkinder sind sie, als sich die Rauchschwaden des Völkermordes verzogen, nach Midyat zurückgekehrt und haben sich mit Fronarbeit durchgeschlagen. Ihre verwitwete Tante Sare hat sich um sie gekümmert.

Die Grosseltern leben in ihren Kindern weiter

Mein Grossvater und seine Brüder waren angesehene Bürger von Midyat und haben sich bis zu ihrem Lebensende nie den islamischen Anfeindungen gebeugt. Sie und ihre verstorbenen Eltern leben in ihren zahlreichen Kindern weiter. Sie sind der Grundstein der nun weltweit verstreuten Familie Halef. In der Diaspora hat sich die Familie Halef in Vereinen, Verbänden und Projekten für den Fortbestand und den Zusammenhalt der aramäisch-christlichen Gemeinschaft engagiert.

Wir sind 1973 im Zuge der Arbeiterbewegung in die Schweiz migriert. Mein Vater, in der Heimat ein Viehhändler, arbeitete zeitlebens hart, um die neunköpfige Familie durchzubringen. Er wollte, dass seine Kinder ohne die Leiden und Entbehrungen der Vorfahren leben müssen. Die Schweiz als christliches Land war der Sehnsuchtsort dafür. Bis zu ihrem Tod waren meine Eltern dankbare Bürger der Schweiz, weil dieses Land ihnen und allen hier lebenden Aramäern ein Leben in Frieden ermöglichte.

Den Glauben bewahrt

Der christliche Glaube war der Grund für Verfolgung und Elend. Meine Vorfahren sind trotz Drangsal nicht von ihm abgefallen. Ich sehe mich in der Nachfolge dieser unerschütterlichen christlichen Tradition. Mein Engagement bei CSI fusst auf diesem Hintergrund. Ich setze mich dafür ein, dass solche Abscheulichkeiten aus Glaubensgründen nicht mehr vorkommen.

Martin Halef ist Vizepräsident der Stiftung CSI-Schweiz.

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