Aserbaidschan kappt die Lebensader von Berg-Karabach

Seit Tagen ist die einzige Verbindung zwischen Armenien und Berg-Karabach blockiert. 120’000 Karabach-Armenier sind vollständig von Aserbaidschan umzingelt und von jeglicher Versorgung von ausserhalb abgeschnitten. Die Menschen haben Angst und befürchten eine humanitäre Katastrophe. CSI unterstützt eine Genozid-Warnung.

Checkpoint

Ein Checkpoint an der Strasse zwischen Armenien und Stepanakert, der Hauptstadt von Berg-Karabach.

 

+++ Update 19.12.2022, 16.15 Uhr +++

Seit dem 12. Dezember ist die einzige Verbindungsstrasse zwischen Armenien und Berg-Karabach blockiert. Angebliche aserbaidschanische Umweltschützer und Journalisten versperren den sogenannten Latschin-Korridor. Gemäss ihren Angaben wollen sie mit der Blockade gegen die umweltverschmutzende Ausbeutung von Bodenschätzen in der armenisch besiedelten Region Berg-Karabach protestieren. Aserbaidschans Regierung gibt sich ahnungslos und lässt die Blockade zu. Die russische Friedenstruppe verhinderte sie ebenfalls nicht. «Dass es sich hier um angebliche Demonstranten handeln soll, ist lächerlich», sagt Joel Veldkamp von der Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International (CSI). Längst hätten sich aserbaidschanische Spezialeinheiten zu ihnen gesellt, die sich den Russen entgegenstellten.

Aserbaidschans «genozidale Politik»

Damit sind rund 120’000 Karabach-Armenier vollständig umzingelt und von jeglicher Versorgung von ausserhalb abgeschnitten. Familien sind voneinander getrennt, schwere medizinische Fälle können nicht zur Behandlung nach Armenien überführt werden. Es gibt keinen Nachschub an Treibstoff, Medikamenten, Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern. Vier armenische Dörfer sind nicht nur von Armenien, sondern auch von Berg-Karabach abgeschnitten und vollständig isoliert. Aserbaidschans Belagerungspolitik im Südkaukasus wird als «genozidal» bezeichnet. Die Karabach-Armenier befürchten eine humanitäre Katastrophe.

Kälte, Hunger, Gewalt

Nach Angaben von Gegham Stepanyan, dem Ombudsmann für Menschenrechte in Berg-Karabach, kommen normalerweise täglich 400 Tonnen lebenswichtiger Güter über diese Strasse in die Region. Diese Lebensader ist nun zugeschnürt. Seit dem 13. Dezember fliesst auch kein Gas mehr nach Berg-Karabach. Sämtliche Schulen sind geschlossen, weil sie nicht mehr beheizt werden können. Im Lady-Cox-Rehabilitationszentrum in Stepanakert, wo Menschen mit einem Handicap und Kriegsversehrte behandelt werden, fallen wegen Energiemangels Therapien aus; viele ambulante Behandlungen werden nicht benutzt, weil der Treibstoff für die Patiententransporte fehlt. Brot und Treibstoff sind rationiert.

«Terror wie beim IS»

Vardan Tadevossian, Direktor des Lady-Cox-Rehabilitationszentrums und Projektpartner von CSI in Berg-Karabach, schildert am 13. Dezember die sich ständig verschlechternde Lage vor Ort: «Es ist eiskalt und heute gibt es keinen Strom. Die behinderten Kinder und Erwachsenen im Rehabilitationszentrum sind verängstigt.» Die Angst gehe um, dass die Aseris und ihre türkischen Verbündeten wieder angreifen könnten. Tadevossian: «Jeder hier erinnert sich an den Völkermord und die ethnischen Säuberungen und Gräueltaten in den Jahren 1988 bis 1994 und 2020 an den Armeniern.» Die Aseris verbreiteten in ihren sozialen Medien Fotos und Videos von Enthauptungen und Erschiessungen von Armeniern. Damit täten sie dasselbe, wie damals der Islamische Staat. Für Tadevossian besteht die Gefahr, dass Karabach-Armenier massakriert werden, sollte Aserbaidschan von seinen Partnern im Westen und anderswo erlaubt werden, weitere militärische Operationen gegen sie durchzuführen.

Erinnerungen an 1988 bis 1994

Tatsächlich begann Aserbaidschans Vernichtungskampagne gegen die Armenier in Berg-Karabach in den Jahren 1988 bis 1994 ebenfalls mit einer Blockade des Strassen- und Eisenbahnverkehrs, gefolgt von bewaffneten Angriffen. Joel Veldkamp von Christian Solidarity International ist überzeugt: «Das Ziel der aserbaidschanischen Diktatur ist es, den armenischen Christen ein Leben in ihrer Heimat unmöglich zu machen.» Es sei durchaus möglich, dass die derzeitige Blockade den Auftakt zu weiteren Angriffen bilde. Umgekehrt könnte ein armenischer Angriff auf die Strassenblockierer Aserbaidschan den Vorwand liefern, Berg-Karabach anzugreifen.

Der Aggression Einhalt gebieten

Die Bevölkerung von Berg-Karabach hofft derweil, dass sich die Grossmächte nicht durch Ölinteressen in Aserbaidschan blenden lassen und die Türkei nicht durch geopolitische Interessen dazu verleitet wird, vor einem möglichen Völkermord an der Karabach-Armeniern die Augen zu verschliessen. Vardan Tadevossian: «Wir appellieren an Aserbaidschans wirtschaftliche und militärische Partner, der Aggression des Alijew-Regimes Einhalt zu gebieten.» Die Armenier von Berg-Karabach halten ein Zusammenleben unter aserbaidschanischer Kontrolle für ausgeschlossen. Sie befürchten entweder vertrieben oder getötet zu werden.

Dringender Appell an die Grossmächte

Anna Ifkovits, Leiterin der Eurasia-Abteilung im EDA, äusserte in einem Tweet vom 15. Dezember die Besorgnis der Schweizer Regierung angesichts der Entwicklung um den Latschin-Korridor. Sie fordert seine rasche Öffnung, freie Durchfahrt und die Fortsetzung des Handels zwischen Armenien und Aserbaidschan. CSI ruft zur Solidarität auf mit den armenischen Christen in Berg-Karabach und unterstützt ihr Recht, sich in ihrer Heimat selbst zu regieren. Gleichzeitig appelliert CSI an die Vereinigten Staaten, Grossbritannien, die Europäische Union und die Russische Föderation, Aserbaidschan zu zwingen, die Belagerung von Berg-Karabach zu beenden. Die christliche Menschenrechtsorganisation mahnt auch, wirtschaftliche Verbindungen mit Aserbaidschan zu überprüfen. Insbesondere die Migros wird aufgefordert, den Franchising-Vertrag für Tankstellenshops mit dem aserbaidschanischen, staatlichen Energiekonzern SOCAR zu stoppen. Zurzeit läuft eine entsprechende Unterschriftensammlung, die von einer breiten Trägerschaft unterstützt wird.

Rolf Höneisen

CSI-Präsident Eibner: «Jetzt muss gehandelt werden!»

CSI unterzeichnete am 19. Dezember eine Genozid-Warnung. Darin halten mehrere Menschenrechtsorganisationen fest, dass inzwischen sämtliche Voraussetzungen für einen Völkermord an den Armeniern von Berg-Karabach (Artsakh) gegeben seien. Alle von der UNO-Genozidprävention genannten 14 Risikofaktoren seien erfüllt. John Eibner, Präsident von Christian Solidarity International (CSI), kommentierte die Genozid-Warnung: «Die Blockade von Berg-Karabach signalisiert die Absicht der aserbaidschanischen Regierung, eine weitere Phase im Völkermord einzuleiten.» Sollten die weltweiten Verpflichtungen zur Verhinderung von Völkermord irgendeine Bedeutung haben, dann müsse die internationale Gemeinschaft jetzt handeln und die Zivilbevölkerung von Berg-Karabach schützen, unterstrich Eibner. Die Liste der Unterzeichnet der Genozid-Warnung wird laufend aktualisiert.

CSI ruft zum Gebet für die Christen in Berg-Karabach auf, insbesondere für die Alten, Kranken und Schwachen, aber auch für eine friedliche Beilegung der Krise.

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Frances Filon
19. December 2022
Danke dass Sie auf diese Situation aufmerksam machen. Fast alle schauen nur auf die Ukraine, da ist der Moment günstig für Azerbaidjan. Bleiben Sie dran, auch bei der Migros! Was tut der Westen?
Kurt Beutler
19. December 2022
Was können wir konkret tun?
CSI
19. December 2022
Danke für dein Nachhaken. Unsere aktuellen Empfehlungen: - Teile diesen Artikel mit Freunden und Bekannten. Nur wenige Menschen sind über die Auseinandersetzung im Südkaukasus informiert. https://www.csi-schweiz.ch/news/berg-karabch-aserbaidschan-kappt-die-lebensader/ - Schreibe dir bekannten Parlamentarierinnen und Parlamentarier, an das EDA und an die Regierung mit einem Dank für die Stellungnahme von Botschafterin Anna Ifkovits vom EDA und drücke deine Erwartung aus, dass die Schweiz weitere Schritte unternehmen wird. https://twitter.com/SwissMFAEurasia/status/1603412110318469120?s=20&t=2v87LH14a5RkPri1B3G8pw - Unterschreibe die Petition gegen die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Migros mit dem staatlichen Energiekonzern SOCAR. https://migrolinotsocar.ch/ - Bete für die Armenier in Berg-Karabach und für die Regierungen von Armenien und Aserbaidschan - Unterstütze Hilfsprojekte in Berg-Karabach. https://www.csi-schweiz.ch/projekte/berg-karabach/