«Die Polizei bleibt bei Strafanzeigen religiöser Minderheiten untätig»

Die Situation der Christen und anderen religiösen Minderheiten hat sich seit der Wiederwahl von Narendra Modi weiter verschlechtert. Nun droht ein Anti-Konversionsgesetz auf nationaler Ebene. CSI-Projektpartnerin Chaya Kumar berichtet aus ihrem Alltag.

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CSI: Erzählen Sie uns bitte, was Sie für die Christen in Indien tun.

Chaya Kumar*: Wir sind ein Netzwerk von Anwälten, die Menschen, die wegen ihres Glaubens bedrängt werden, unentgeltlich rechtliche Unterstützung bieten. Wir führen Schulungen über die in der Verfassung garantierten Grundrechte und die vorhandenen Rechtsmittel durch. Weiter organisieren wir Workshops für Anwälte, damit sie ihre Prozesse besser führen können.

Wir haben mit anderen Gruppen eine Notfallnummer eingerichtet, bei der Übergriffe gemeldet werden können. Diese ist sehr wichtig, weil die Polizei bei Hilferufen von religiösen Minderheiten häufig untätig bleibt. Oft werden wir noch während des Übergriffs kontaktiert, zum Beispiel wenn ein Mob bei jemandem aufgetaucht ist und ihn bedroht. Dann rufen wir sofort die Polizei an und drängen sie zum Einsatz.

Wie viele Personen nutzen diese Notfallnummer?

Allein in diesem Jahr hatten wir bereits etwa 3000 Anrufe. Die Mehrheit sind Menschen, die Informationen brauchen. Dank WhatsApp wurde die Notfallnummer rasch bekannt. Wir bekommen auch Anrufe von Gruppen, die uns bedrohen. Aber wir sind dankbar, dass wir die Notfallnummer bisher ohne grössere Probleme betreiben konnten.

Welche Art von Problemen haben Christen in ihrem Alltag?

Für manche Christen ist der Alltag schwierig geworden. Mehrere Hilfesuchende berichteten uns, dass ihnen vom örtlichen Dorfrat verboten wurde, sich zum Gottesdienst zu treffen. Zudem seien sie zur Konversion aufgefordert worden und der Zugang zum Dorfbrunnen und zum Wald wurde ihnen verweigert. Wenn sie sich an die Polizei wenden, hilft diese häufig nicht. Es kann sogar vorkommen, dass ein Mob bei der Polizei auftaucht und diese nötigt, Massnahmen gegen die Christen zu ergreifen.

Ein weiterer Trend: Hauskirchen werden von den Behörden informiert, dass Beschwerden gegen sie vorliegen. Selbst Menschen, die sich in ihren eigenen Häusern treffen, wird gesagt, dass sie eine Genehmigung beantragen müssen. Die grosse Frage ist: Wer gibt dir die Erlaubnis, dich in jemandes Haus zu treffen, und warum brauchst du überhaupt eine Erlaubnis?

Nach der Wiederwahl von Narendra Modi zum Premierminister befürchteten viele, dass sich die Verfolgung von Minderheiten verschärfen würde. Ist das eingetroffen?

Die grösste Veränderung seit den Wahlen ist eine grössere Euphorie unter den Mobs. Sie glauben, dass nun ihre Zeit gekommen sei, um den indischen Minderheiten eine Lektion zu erteilen und Indien zu einer hinduistischen Nation zu machen.

Es gab Befürchtungen, dass es mehr Gewalt geben würde – das ist eingetroffen. In diesem Jahr gab es bis Ende September bereits 260 Angriffe auf Christen. Nur in 25 Fällen wurde eine Strafanzeige gegen Mitglieder des Mobs entgegengenommen. Das Versäumnis der Polizei, gegen einen wilden Mob vorzugehen, sollte uns allen Sorge bereiten. Niemand sollte wegen seines Glaubens ins Visier genommen werden.

Die Situation in Kaschmir wird als Razzia gegen eine grosse Minderheit angesehen. Im östlichen Teil Indiens, im Bundesstaat Assam, wurde fast zwei Millionen Menschen gesagt, dass sie keine indischen Staatsbürger sind und auch nie welche waren. Die Regierung baut grosse Internierungslager für sie. Etwa 50 % dieser Menschen sind Muslime. Die Auswirkungen einer solchen Politik auf religiöse Minderheiten sind für alle offenkundig.

Ein letztes Beispiel: Es wurde ein nationales Anti-Konversionsgesetz angekündigt. In den sieben Bundesstaaten, in denen bereits ein solches Gesetz in Kraft ist, sehen wir viel Gewalt und missbräuchliche Anklagen gegen Christen. Das könnte sich nun im ganzen Land ausbreiten.

Können Sie die Auswirkungen der Anti-Konversionsgesetze noch etwas ausführen?

Die Anti-Konversionsgesetze schafften ein Klima, in dem Bekehrungen per se für falsch oder illegal gehalten werden. Man unterstellt bei einem Religionswechsel automatisch, dass Zwang oder Anreize dazu führten. Das fördert Gewalt. Nach dieser Auffassung kann eine Person nicht aus freien Stücken konvertieren, sondern wird missbraucht.

Wer ist bisher wegen des Anti-Konversionsgesetzes angeklagt worden?

Hindus trifft es nie. Manchmal werden Muslime angeklagt, insbesondere im Bundesstaat Gujarat. Meistens sind es jedoch Christen, die ins Visier genommen werden. Sie verbringen oft Jahre damit, ihre Unschuld zu beweisen.

In einem Fall kam es sogar zu einer Verurteilung. Es handelte sich um ein blindes, sehr armes Pastoren-Paar im Staat Madhya Pradesh. Es wurde beschuldigt, den Menschen Geld gegeben zu haben, damit sie sich bekehrten. Deswegen wurde es auch verurteilt. Ich erinnere mich, als ich das Paar zum ersten Mal getroffen habe: Die beiden erschienen in Hausschuhen, da sie kein Geld für richtige Schuhe besassen. Der Mann lebte von einer Invalidenrente. Zu behaupten, dass dieses Paar anderen Menschen Geld gegeben habe, um sie zu bekehren, ist lächerlich. Das Paar wurde am Ende von diesem Vorwurf freigesprochen.

Wie steht es um jene, die konvertieren wollen?

Sie müssen eine Erlaubnis zur Konversion beantragen. Vor kurzem hörten wir von 33 Menschen im Bundesstaat Jharkhand, denen – ohne Angabe von Gründen – gesagt wurde, sie dürften sich nicht bekehren. Es gibt keine Möglichkeit, Beschwerde einzulegen. Zudem haben die Menschen grosse Angst.

Gibt es Orte, an denen das Christentum gedeiht und wächst?

Ich würde sagen, das geschieht im ganzen Land. Verschiedene Denominationen wachsen. Es ist wirklich bemerkenswert, dass trotz aller Mühsal die meisten Menschen, die sich in Häusern und Kirchen treffen, Gläubige der ersten Generation sind.

Morven McLean

Unsere Indien-Broschüre können Sie hier bestellen.

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