Ein harter Winter steht bevor

Von einer Krise nach der anderen heimgesucht, sieht sich Syrien möglicherweise mit einem der härtesten Winter seit Beginn des Konflikts konfrontiert.

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«Die Menschen sind sehr besorgt, da der Winter naht», erzählt George*, ein Armenier aus Aleppo und seit 2013 Partner von CSI. «Wenn es keine drastischen Veränderungen gibt, kommt dieses Jahr ein schrecklicher Winter auf uns zu.»

Tatsächlich sind alle Voraussetzungen gegeben, dass dieser Winter einer der dunkelsten in der jüngeren Geschichte Syriens wird. Syrien, das bereits stark von dem Konflikt betroffen ist, ist im Laufe des Jahres in eine beispiellose wirtschaftliche und humanitäre Krise gestürzt.

Ein Abstieg in die Hölle

Gemäss der Vereinten Nationen wurden im Oktober 2019 durch die von der Türkei eingeleitete Militär­offensive «Quelle des Friedens» innerhalb von etwa 20 Tagen fast 180 000 Menschen im Norden des Landes vertrieben. Gleichzeitig brach im Libanon eine finanzielle und politische Krise aus, die Schockwellen im gesamten syrischen Wirtschaftsgefüge auslöste.

Diese beängstigende Situation wurde durch die COVID-19-Pandemie und deren Folgen verschlimmert. Dazu kommen die verschärften US-Sanktionen im vergangenen Juni (Cäsar-Gesetz), die den Zugang Syriens zum internationalen Markt weiter einschränkten, de facto auch für die Einfuhr von Gütern des täglichen Bedarfs.

Diese Kombination von Faktoren hat das syrische Pfund zusammenbrechen und die Preise in die Höhe schnellen lassen: Im Oktober 2020 war der Preis für einen Korb mit Grundnahrungsmitteln im Vergleich zum Vorjahr um 244 % gestiegen. Er kostet heute für die meisten Familien mehr als einen Monatslohn.

Wie uns unsere Partner vor Ort berichten, stehen viele Familien vor der schwierigen Wahl, sich zwischen Nahrung, Medikamenten, Strom und anderen lebensnotwendigen Bedürfnissen entscheiden zu müssen. Die Vereinten Nationen schätzten, dass im April 2020 fast 46 Prozent der Syrer keinen regelmässigen Zugang zu ausreichender und ausgewogener Nahrung hatten. Dieser Wert ist heute wahrscheinlich noch höher.

Kein Heizöl – Schulbesuch in Gefahr

«Im Winter kann es in Syrien sehr kalt sein, besonders im Landesinneren», berichtet George. Die Kälte dringt bis zu den Knochen und breitet sich leicht in Gebäuden aus, die oft schlecht isoliert sind. «Die meisten Heizungen werden mit Öl betrieben, einem Brennstoff, der lange Zeit unter anderem dank der Ölfelder im Norden Syriens reichlich verfügbar war.»

Die Situation hat sich seitdem stark verändert. «Die Verhängung neuer amerikanischer Sanktionen und die Besetzung von Ölanlagen durch amerikanische Truppen und ihre kurdischen Verbündeten haben dazu geführt, dass es kaum noch Öllieferungen gibt und die Preise für die Bevölkerung in die Höhe schnellen.»

Auch die Schulen sind von dieser Realität hart betroffen: «Da die Grundschulen nicht in der Lage sind, ausreichend Heizöl zu beschaffen, mache ich mir Sorgen, dass die Eltern ihre Kinder im Winter nicht mehr zur Schule schicken werden», ergänzt George, der einige Kinderprogramme von CSI leitet.

Ein ausdauerndes Engagement

Gemeinsam mit unseren Partnern vor Ort intensivieren wir unsere Anstrengungen, das ganze Jahr über und insbesondere in diesem Winter wirksame humanitäre Hilfe vor Ort zu leisten.

Eine dauerhafte Lösung erfordert jedoch auch ein Bewusstsein für die verheerenden Folgen, die die Sanktionen auf die Zivilbevölkerung haben und die eine ohnehin fragile Situation noch verschärfen. Aus diesem Grund setzt sich CSI als Reaktion auf die Appelle unserer Partner auch auf politischer Ebene für eine Reform der Sanktionen ein, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.

Schwester Marie-Rose, eine langjährige CSI-Partnerin, erzählte uns am Telefon in ihrem charmanten Französisch: «Zu Beginn des Krieges gab es Angst, es gab Vertreibung. Jetzt gibt es Armut. Dies ist ein weiterer Krieg, den wir durchleben.» Ein Krieg, der vielleicht weniger sichtbar ist, der aber genauso viel Solidarität erfordert.

Nahost-Projektmanagerin Hélène Rey

* Name geändert

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