22. Oktober 2019

Frauen für Frauen – Kriegsopfer erhalten ihre Würde zurück

Die Menschen in Aleppo leiden unter den Folgen des Kriegs. Ein Grossteil der Bewohner ist bis heute von fremder Hilfe abhängig. Der Wiederaufbau schreitet nur zögerlich voran. Mit ihrem Projekt «Heartmade» bringt Leyla Antaki Licht in dieses dunkle Elend. Sie ermöglicht Frauen ein regelmässiges Einkommen und gibt ihnen neues Selbstvertrauen.

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CSI: Leyla Antaki, Sie wohnen mit Ihrem Mann in Aleppo. Haben Sie schon immer in der einstigen Wirtschaftsmetropole von Syrien gelebt?

Nun, als ich 15-jährig war, zog ich mit meinen Eltern wegen besserer Ausbildungsmöglichkeiten in den Libanon und kehrte später zurück Ich verliess Aleppo ein zweites Mal 1973: Für eine sechsjährige Weiterbildung meines Mannes zogen wir nach Kanada. Obwohl mein Mann dort als Arzt sehr gute Verdienstmöglichkeiten hatte, kehrten wir anschliessend nach Aleppo zurück.

Was hat Sie zur Rückkehr motiviert?

Für uns beide war klar: Gott hat uns dazu berufen, dass wir uns um bedürftige Menschen in unserer Heimat kümmern sollen. Mit der selbst gegründeten Hilfsorganisation «Das Ohr Gottes» leisteten wir über 25 Jahre lang humanitäre Hilfe. Wir unterstützten hunderte Familien durch medizinische Versorgung und Schulbildung, aber auch bei der Wohnungssuche.

Was geschah mit Ihrer Organisation, als der Krieg ausbrach?

Wir leisteten vermehrt Nothilfe. Unsere Arbeit erlitt einen herben Rückschlag, als islamistische Rebellen am 29. März 2013 ein Quartier in Westaleppo besetzten, in welchem wir 300 vorwiegend christliche Familien unterstützt hatten. Die Aufständischen gaben uns 24 Stunden Zeit, zu verschwinden. Die meisten Familien flüchteten in andere Städte oder in den Libanon. Für die rund 30 Familien, zu denen wir nach der Vertreibung Kontakt hatten, konnten wir eine Mietwohnung in einem anderen Stadtteil besorgen.

Sie hielten Ihren Dienst für die Bedürftigsten auch während des Kriegs aufrecht?

Ja, doch mit dem Ausbruch des Krieges nannten wir uns neu die «Blauen Maristen». Wir trugen blaue Kleider und die Menschen auf der Strasse nannten uns die Blauen. Den Begriff «Maristen» fügten wir in Anlehnung an die Jungfrau Maria an. Heute, knapp drei Jahre nach der Befreiung von Aleppo, unterstützen wir mit einem Team von 85 Freiwilligen rund 1000 Familien in 14 verschiedenen Programmen, unter anderem mit Bildungsprojekten und psychologischer Begleitung. Etwa ein Drittel der begünstigten Familien ist muslimisch, die anderen zwei Drittel christlich.

Innerhalb Ihrer Organisation leiten Sie das Projekt «Heartmade», das von CSI unterstützt wird.

Dafür sind wir sehr dankbar. «Heartmade» wurde ein Monat nach der Wiedervereinigung mit Ostaleppo ins Leben gerufen und besteht aus zehn Frauen und mir. Zusammen stellen wir aus alten, einwandfreien Kleidern, Stoffen aus im Krieg zerstörten Läden und Stoffresten einzigartige Kleidungsstücke her, die wir verkaufen. Die Stoffresten beziehen wir aus kleinen Fabriken in der Region und aus dem Ausland. Ich habe auch schon Material aus der Modestadt Mailand und aus der Schweiz erhalten.

Wie verkauft sich diese besondere Kleidermode?

Zu Beginn hatten wir nur wenig Kunden. Doch seitdem wir den Laden in die Nähe des Zentrums verlegt haben, erzielen wir bessere Umsätze. Zudem können wir die Selbstkosten dank günstigerem Strom durch Sonnenenergie gering halten – CSI hat die Solarpanels bezahlt, wofür wir sehr dankbar sind. Die meisten unserer Kunden sind übrigens Muslime.

Sind auch unter Ihren Angestellten Muslime?

Ja, zwei Frauen die bei «Heartmade» arbeiten, sind muslimischen Glaubens. Das ist sehr wichtig für uns, weil wir so von einer breiteren Öffentlichkeit akzeptiert werden. Wir sind sehr dankbar, dass der Vater der beiden muslimischen Näherinnen uns vertraut. Er weiss, dass seine Töchter bei uns an einem sicheren Ort eine Arbeitsstelle haben.

Ich lege auch besonderen Wert auf eine disziplinierte Arbeitshaltung und bezahle meinen zehn Mitarbeiterinnen einen besseren Lohn, als wenn sie sonst wo arbeiten würden. Der höhere Lohn ist auch deshalb gerechtfertigt, weil die Arbeit im Vergleich zu anderen Nähateliers anspruchsvoll ist. Es ist nicht so einfach, aus verschiedenen Teilen ein hübsches, ansprechendes Kleidungsstück anzufertigen.

Bei «Heartmade» geht es Ihnen aber nicht nur darum, einigen Frauen eine Arbeitsstelle zu ermöglichen.

Nein, noch wichtiger ist es mir, die Fähigkeiten der Frauen zu fördern und ihnen neues Selbstvertrauen zu schenken. In der syrischen Gesellschaft leiden viele Frauen an mangelndem Selbstwertgefühl. Dabei stehen sie sich selbst am meisten im Weg. Für mich ist es deshalb eine Berufung, den Frauen diesen Wert zu geben, den sie sich nicht zuletzt durch ihren selbstlosen Einsatz im Krieg verdient haben.

A propos Krieg: In welchem Zustand befindet sich Aleppo heute, knapp drei Jahr nach der Befreiung?

Das Schulsystem funktioniert weitgehend wieder. Im Zentrum der Stadt pulsiert das Leben wieder. Viele Strassencafés sind wieder offen. Abends sind die Strassen beleuchtet. Auch ist der Wiederaufbau von Wohnungen, Häusern und Läden im Gange. Doch er kommt nur schleppend voran. Ein Grossteil der Stadt ist nach wie vor zerstört. Zudem ist die Armut weit verbreitet: 80 Prozent der Bewohner Aleppos sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Sorgen bereitet uns auch der Umstand, dass grössere Investitionen in Aleppo ausbleiben. Vor dem Krieg waren viele internationale Firmen rund um Aleppo vertreten. Sie sind bis heute nicht zurückgekommen.

Aber Aleppo ist doch wieder eine sichere Stadt?

Die Sicherheitslage hat sich seit der Rückeroberung gebessert. Doch die islamistischen Rebellen befinden sich nur etwa sechs Kilometer ausserhalb der Stadt und beschiessen Aleppo mit Raketen. Mitte August 2019 schlug eine Rakete etwa 20 Meter vor unserer Wohnung ein. Glücklicherweise waren wir zu jenem Zeitpunkt nicht zuhause. 

Wie geht es den Christen in Aleppo?

Viele sehen hier keine Zukunft und versuchen, die Stadt zu verlassen. Vor dem Krieg lebten etwa 300‘000 Christen in Aleppo. Heute sind es noch rund 25‘000. Ich befürchte, dass die Zahl weiter sinken wird.

Und welche Zukunft sehen Sie und Ihr Ehemann Nabil in Ihrer Heimat?

Bei uns zuhause steht immer ein fertig gepackter Koffer bereit. Da wir beide auch die kanadische Staatsbürgerschaft besitzen, können wir Syrien jederzeit verlassen und nach Kanada auswandern. Doch wir wissen auch, dass wir in Aleppo eine Mission und einen Auftrag haben. Deshalb setzen wir alles daran, hier zu bleiben und in die Menschen von Aleppo zu investieren.

Reto Baliarda

 

Radio SRF 1 und SRF 2 sendeten mehrminütige Beiträge über das Projekt Heartmade. Die Links finden Sie hier.

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