23. Mai 2018

Für Minderheiten geht der Albtraum weiter

Der Islamische Staat hat im Irak sein ganzes Gebiet verloren. Doch die religiöse Gewalt ist damit nicht zu Ende. Eine Serie von Attacken gegen Christen und andere religiöse Minderheiten in Bagdad verbreitet Angst und Unsicherheit.

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Als der irakische Premierminister Haider al-Abadi im Dezember 2017 den Sieg über den Islamischen Staat (IS) verkündete, hoffte man auf Frieden im Land. Doch in den letzten Monaten häuften sich in Bagdad und im Südirak Übergriffe auf religiöse Minderheiten – notabene in Gebieten, die nie vom Islamischen Staat (IS) beherrscht wurden.

Nach Flucht vor Extremisten erstochen

Dr. Hashim Shafiq Maskouni und seine Frau Dr. Shada Malik Dano hatten den Irak nach der amerikanischen Invasion 2003 verlassen. Damals wurden die Hauptstadt und das ganze Land von einer Welle der Gewalt ergriffen.

Später kehrten sie aus den USA in ihre Heimat zurück. Beide wurden von der renommierten katholischen Privatklinik St. Raphael angestellt, er als Radiologe, sie als Gynäkologin. Sie führten kein beschauliches Leben, ganz im Gegenteil: Sie wurden als Christen so häufig belästigt, dass sie erneut an Auswanderung dachten.

Doch am 8. März 2018 wurden diese Überlegungen zunichte gemacht. Eine Gruppe bewaffneter Männer stürmte ihre Wohnung. Sie erstachen Dr. Maskouni, seine Frau und sogar deren Mutter, die ebenfalls anwesend war. Ihre Leichen wurden am nächsten Tag von den Nachbarn gefunden.

«Wir haben genug gelitten»

Der brutale Mord an der christlichen Familie führte zu einer Protestwelle unter den Christen und darüber hinaus. Die Empörung war umso größer, weil bereits weniger als zwei Wochen zuvor am helllichten Tag Samir Salah ad-Din Younis umgebracht worden war, ebenfalls Christ und Vater von zwei Kindern.

Der chaldäische Patriarch Louis Raphael I. Sako erklärte den 12. März zum Trauertag und hielt einen Gedenk-Gottesdienst, der von prominenten Vertretern aus Religion und Politik besucht wurde. «Wir haben genug gelitten», rief der Patriarch aus. «Wir sind an einem heiklen und gefährlichen Wendepunkt angekommen.»

Hammurabi, die irakische Partnerorganisation von CSI, verurteilte die Morde aufs Schärfste und forderte die Regierung dringend auf, die Übergriffe ernst zu nehmen. Pascale Warda, Präsidentin von Hammurabi, verglich die Attacken mit der Gewalt des IS und sprach von einer «erneuten angsteinflös­senden Entwicklung gezielter Gewalt gegen Christen». Die Zahl der Christen in Bagdad habe von etwa einer halben Million im Jahr 2003 auf heute unter 150 000 abgenommen.

Auch Sabäer-Mandäer im Visier

Die Gewalt der letzten Monate richtete sich nicht nur gegen Christen, sondern auch gegen die Sabäer-Mandäer, eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft, für die Johannes der Täufer eine zentrale Rolle spielt. Sie sprechen Mandäisch, einen Dialekt des Aramäischen. Im März wurde bereits zum dritten Mal dieses Jahr ein Sabäer-Mandäer angegriffen.

Mahmoud Shaker Darbaya al-Khadadi hatte sein Geschäft verlassen, um nach Hause zum Mittagessen zu gehen. Er kam jedoch nie zu Hause an. Seine Familie rief jedes Spital, jeden Polizeiposten an – doch es fehlte jede Spur von ihm. Einige Tage später wurde seine Leiche gefunden, übersät mit Stichwunden und Folterspuren.

Schätzungen gehen von etwa 40 000 Sabäern-Mandäern vor 2003 aus. Die große Mehrheit lebt heute in Ausland, die andern – vielleicht 5000 – sind ins irakische Kurdistan gezogen. Obwohl die Sabäer-Mandäer im Koran als «Leute der Schrift» bezeichnet werden, werden sie nicht von allen Muslimen als solche anerkannt. Daher waren sie in den letzten Jahren intensiver Verfolgung ausgesetzt.

Den Worten müssen Taten folgen

«Die Übergriffe gegen Christen sind ein direkter Angriff auf die natio­nale Einheit», sagte Dr. Salim al-Jabouri, der Präsident des irakischen Parlaments, nach der Ermordung der christlichen Ärztefamilie. «Es ist eine schwere Bedrohung, die mit allen nötigen Mitteln angegangen werden muss.»

«Nationale Einheit», «nationale Versöhnung» ist in den vergangenen Monaten in Bagdad zu einem oft genannten Schlagwort geworden. Doch es fehlen konkrete Pläne für die Zukunft des Irak nach dem IS.

Auf der letzten Reise in den Irak sprach CSI mit mehreren Regierungsvertretern, die sich mit der «nationalen Versöhnung» beschäftigen. Viele scheinen die Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften bekämpfen zu wollen. Die Bereitschaft, sich wirklich dafür einzusetzen, bleibt jedoch fraglich, gerade weil die innermuslimischen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten die Situation der reli­giösen Minderheiten überlagern. Diese Unsicherheit und die häufigen Übergriffe auf religiöse Minderheiten fördern auf alle Fälle ein Klima der Angst und führen zu weiterer Emigration aus Bagdad und dem Irak überhaupt.

Hélène Rey

Am 9. Januar 2018 erschien in der einflussreichen irakischen Zeitung Az-Zaman ein Interview mit Dr. John Eibner zur aktuellen Situation und den Zukunftsperspektiven.

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