19. Mai 2014

Ihre Seelen sind gebrochen, ihre Blicke leer

Begegnet man befreiten Opfern von Menschenhandel, so begegnet man Menschen mit leeren Blicken, gebrochenen Seelen. Diese sexuelle, psychische und physische Ausbeutung darf nicht mehr ignoriert werden. die Projektleiterin Indien berichtet von ihrer letzten Indienreise.

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Die Anzahl nichtregistrierter Fälle von sexuellen Übergriffen, Entführungen, von Missbrauch und Ausbeutung ist völlig unklar – aber sicher erschreckend hoch: Die in Indien weitverbreitete Einstellung, dass Frauen, Mädchen und Kinder – besonders aus den untersten Bevölkerungsschichten – keine Rechte, keine Wertschätzung und keinen Schutz verdienen, ist ein Freipass für Menschenhändler. Vor rechtlichen Folgen brauchen sie sich nicht zu fürchten.

Wen kümmert es schon, wenn Mädchen aus völlig abgelegenen Dörfern verschwinden? Wer greift ein, wenn ein Vater seine eigene Tochter stundenweise verkauft, damit er seiner Alkoholsucht nachgehen kann? Oder wenn eine «nette» Tante mit einem guten Job in einer Großstadt lockt und die eigene Nichte Menschenhändlern verkauft? Die Kinder landen oft in Bordellen oder in den Haushalten reicher Inder, wo sie hart arbeiten müssen und häufig auch geschlagen und missbraucht werden.

Zwei Schicksale: Asha und Leela

Auf meiner letzten Indienreise traf ich die 20-jährige Asha (Name geändert). Sie blickte traurig auf den Boden. Als ich sie spontan in den Arm nahm, begann sie zu weinen und drückte mich fest an sich. Sie war nicht in der Lage, ihre Geschichte selber zu erzählen. Stumm saß sie daneben, als eine der Mitarbeiterinnen unseres Netzwerks EFICAR (siehe Kasten) ihre Geschichte schilderte: «Asha wurde von ihrer Familie an eine Menschenhändlerin verkauft, die sie mit zwei anderen Mädchen aus ihrem Dorf in eine Großstadt mitnahm. Zwei Jahre lang musste sie bei einer Familie arbeiten, wo sie regelmäßig brutal geschlagen wurde. Geld bekam sie keines und manchmal bekam sie nicht einmal zu essen. Leute aus der Nachbarschaft informierten mich, worauf wir sie befreien konnten.» Heute lebt Asha in einem Schutzhaus, wo ich sie besuchte. Obwohl sie bereits seit neun Monaten dort lebte, war sie immer noch völlig verängstigt. Sie fürchtet sich davor, dass ihre Familie sie noch einmal verkaufen könnte.

Ein anderes Opfer ist die 16-jährige Leela (Name geändert). Sie stammt aus einer sehr armen Familie und ist die Älteste von vier Kindern. Um ihrer Familie zu helfen, ging sie mit einem Menschenhändler in die weit entfernte indische Hauptstadt Neu-Delhi. Was dann passierte, kam völlig unerwartet: Zusammen mit anderen Mädchen wurde sie gefangen gehalten. Sexueller Missbrauch war an der Tagesordnung. (Ob sie selber auch missbraucht wurde, sagte Leela nicht.) Später wurde sie in einen Haushalt geschickt. Harte Arbeit, Erniedrigungen und Schläge gehörten zu ihrem Alltag und oft bekam sie nichts zu essen.

Schließlich gelang es ihr, über eine Kollegin einen Brief an ihre Freundin abzuschicken. Als Leelas Freundin den Brief bekam, informierte sie sofort eine Mitarbeiterin unseres Netzwerks. Diese alarmierte die Polizei, die Leela befreite. Mit Hilfe der mutigen Leela konnten alle gefangenen Mädchen dieses Rings befreit und der Menschenhändler verhaftet werden. «Ich danke euch, dass ihr mein Leben gerettet habt», sagte Leela mir. «Ich weiß nicht, ob ich sonst noch am Leben wäre.»

Zuerst Arbeit, dann Missbrauch

Selbst was recht unproblematisch beginnt, kann tragisch enden. Rajani (Name geändert) ergriff die Chance, als eine Frau ihr eine Arbeit in einer Ziegelfabrik anbot. Die Arbeit war zwar streng, aber ansonsten verlief alles gut. Nach einem Jahr begann der Aufseher plötzlich, sie regelmäßig zu vergewaltigen. Rajani litt enorm. Als sie in ihrer Verzweiflung schließlich zur Polizei gehen wollte, versuchte der Aufseher, sie umzubringen, und übergoß sie mit Säure. Wie durch ein Wunder wurde sie in ihrem tragischen Zustand von anderen Leuten gefunden und sofort in ein Spital gebracht.

Der Säureangriff hat Rajani schrecklich entstellt. Sie ist so traumatisiert, dass sie nicht mehr aus dem Haus geht und jeden Kontakt zu Menschen außerhalb der Familie vermeidet. Unsere Projektpartner nehmen sich ihrer an und begleiten sie mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen auf ihrem Heilungsweg. Es wird noch ein langer Weg sein, aber, so hoffen wir von Herzen, ein erfolgreicher. Dank der beiden Anwälte, die im Team aktiv sind, ist ihr Peiniger hinter Gitter gebracht worden. Sie kämpfen dafür, dass er seine gerechte Strafe erhält.

Schwerpunkt Prävention

Damit diese unbeschreiblichen Gräueltaten gar nicht erst geschehen, setzen unsere Projektpartner vor Ort einen Schwerpunkt auf Prävention. Sie reisen regelmäßig in ländliche Gebiete, um Jugendliche auf die Gefahren aufmerksam zu machen. «Es ist erschreckend zu sehen, wie unwissend die jungen Leute sind», sagt Anwalt Prakash, ein Projektmitarbeiter. «Im guten Glauben, ihrem trübseligen Leben entfliehen zu können, landen sie oft in der Hölle.» Bei seinen Vorträgen lernen die Jugendlichen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie selber in Gefahr kommen oder von anderen Fällen hören. Sie bekommen auch eine Notfallnummer, unter der sie das Helferteam erreichen können.

Die Sensibilisierung der Bevölkerung zeigt Erfolge, wie Parul Singh (Name geändert), die Leiterin des Menschenhandelsprojekts, sagt: «Wir haben schon oft erlebt, dass Leute uns anriefen und eine verdächtige Situation meldeten.» So zum Beispiel, wenn ein Mädchen auf den Bus in die weit entfernte Hauptstadt Neu-Delhi wartet.

Innerhalb kurzer Zeit kann die Sozialarbeiterin verständigt werden und, wenn der Zuhälter dabei ist, auch die Polizei. So kann verhindert werden, dass die jungen Menschen überhaupt erst weggebracht werden. Mit Workshops für Sozialarbeiter, Behörden, Polizisten, NGOs und Kirchenleiter weiten unsere Partner ihr Netzwerk aus. Denn: «Alleine kann man nie gegen das organisierte Verbrechen ankämpfen, es braucht ein breites Netzwerk von verschiedenen Parteien», wie Bundesrätin Simonetta Sommaruga letztes Jahr an einer Konferenz über Menschenhandel in Bern sagte. CSI wird das indische Team weiterhin unterstützen, damit es diese wertvolle Arbeit weiterführen kann. Geben wir den Opfern von Menschenhandel eine Stimme, damit ihnen Gerechtigkeit widerfährt und sie Heilung erfahren!

Autorin: Projektleiterin Indien

 


 

CSI-Projekt gegen Menschenhandel

CSI finanziert das Menschenhandelsprojekt Children@Risk de Indischen Evangelischen Allianz (EFICAR). Projektleiterin vor Ort ist PArul Singh (Name geändert), Projektgebiet der Bundesstaat Jharkhand, in dem Menschenhandel besonders stark verbreitet ist.

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