Vom IS einst bis aufs Blut verfolgt – Jesiden zeigen ihr unternehmerisches Flair

Neue Zukunft für überlebende Opfer des IS-Terrors: CSI und der irakische Partner Hammurabi haben ein Projekt ins Leben gerufen, um Jesiden bei der Gründung von Kleingewerbe zu unterstützen. Die CSI-Nahost-Projektleiterin hat die hoffnungsvollen KleinunternehmerInnen in der nordirakischen Region Sindschar besucht.

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Die Sonne geht über der mehrheitlich kargen Landschaft auf. Mossul und Tel Afar, ehemalige Hochburgen des Islamischen Staates (IS), liegen im Rückspiegel. Zu unserer Linken erstreckt sich das Sindschar-Gebirge so weit das Auge reicht. Zu unserer Rechten weist eine weisse Skelettstruktur auf ein Massengrab hin – eines von vielen.

Quälende Erinnerungen an 2014

Die Luft wird dichter. Wir fahren in ein Land des Völkermords. Unsere Gedanken werden von Bildern aus dem Jahr 2014 überflutet, Bilder von Zehntausenden Jesiden, die ohne Nahrung und Wasser im Schindschar-Gebirge gestrandet waren. Sie sind den Massakern des IS und seiner lokalen Verbündeten entkommen, aber nicht dem Trauma, von allen verlassen zu sein.

Diejenigen, die überlebten, fanden Zuflucht in schlecht ausgestatteten Lagern. Einige der von den IS-Kämpfern Entführten wurden befreit, zumindest physisch. Tausende von Frauen und Kindern werden immer noch vermisst.

Wir sind allein unterwegs, die Soldaten an den Kontrollpunkten und die allgegenwärtigen Erinnerungen an vergangene Tragödien sind unsere einzigen Begleiter. In diesen Tagen ist es Aussenstehenden nicht gestattet, Sindschar zu betreten. Nur durch ein Wunder (und viel Verhandeln) konnten wir eine Ausnahmeregelung erwirken.

Trauer und Zuversicht

Unser Auto hält am Eingang eines von einem Dutzend künstlichen Dörfer, in welche die Jesiden unter Saddam Hussein zwangsumgesiedelt wurden. Das war in den 1970er und 1980er Jahren. Eine junge Frau Ende 20 begrüsst uns mit einem breiten Lächeln und erinnert uns daran, warum wir hier sind: Nicht um die Toten zu besuchen, sondern um den Lebenden Hoffnung zu geben.

Ahlam führt uns in ihren Laden. Begeistert zeigt sie die Veränderungen, die sie seit ihrem letzten Besuch unseres Partners, der Hammurabi Human Rights Organisation (HHRO), vorgenommen hat. Ihre Traurigkeit, die sie bei aller Dankbarkeit nicht verbergen kann, spiegelt die schreckliche Tortur wieder, die sie als Gefangene von IS-Kämpfern durchgemacht hat, aber auch ihre Entschlossenheit, für eine bessere Zukunft für sich und ihren jüngeren Bruder zu kämpfen.

Unser nächster Halt ist ein Haushaltsgeschäft, das von Hawiza, Mutter von zwei Kindern, betrieben wird. Ihr Mann ist vor zwei Jahren tödlich verunglückt. Wie der nahe gelegene Friseursalon von Ghazal wurde auch dieser Laden mit Hilfe von CSI und HHRO neu aufgebaut. Sowohl Hawiza als auch Ghazal stecken voller Ideen, um ihre kleinen Geschäfte zu erweitern. Ihre Energie ist ansteckend, und schon bald melden sich alle zu Wort, um die Platzierung eines Regals zu testen oder zu überlegen, wie sich ein Spiegel machen würde.

Khalils berechtigter Stolz

Wir fahren weiter und treffen Khalil, den diverse gesundheitliche Gebrechen plagen. Zudem hat er brutal schmerzliche Zeiten hinter sich: Mehrere Familienmitglieder des zwölffachen Vaters wurden 2014 vom IS getötet.

Als Khalil vom Kleingewerbe-Projekt von CSI und HHRO erfuhr, nahm er sofort Kontakt mit dem örtlichen jesidischen Scheich auf, um ihm seinen Traum mitzuteilen: Die Eröffnung eines Restaurants. Noch selten habe ich ein Strahlen wie das auf Khalils Gesicht gesehen, als er uns seinen mittlerweile realisierten Traum zeigte: «Dank eurer Hilfe konnte ich diesen winzigen Raum in ein Restaurant verwandeln, vielen Dank!» In seinem einladenden Gasthaus duftet es nach Hühnchen, seiner Spezialität. Schliesslich öffnet Khalil stolz die Facebook-Seite des Restaurants: alle Bewertungen sind positiv und ermutigend!

Besuch durch Luftangriffe getrübt

Zum Mittagessen sind wir bei Kajo eingeladen; sie ist Anfang 30 und dreifache Mutter. Trotz ihrer freundlichen Begrüssung ist die Stimmung angespannt: Die Türken setzen ihre Luftangriffe fort. Sie richten sich angeblich gegen PKK-Kämpfer und lokale Verbündete, treffen aber mehr Schulen und Krankenhäuser als militärische Ziele. Die Nachrichten laufen ununterbrochen im Hintergrund. Anders als in anderen Teilen des Irak wird hier nicht über den Krieg in der Ukraine berichtet, sondern über die unmittelbare Gefahr.

Viele der anwesenden Männer haben gegen den IS gekämpft. Sie haben dabei Freunde und Familienmitglieder verloren, darunter auch Kajos Ehemann. Um die Familie zu unterstützen, haben zwei Schwager mit Hilfe von CSI und HHRO ein florierendes Baugerüst-Geschäft aufgebaut. Wie auch die anderen Begünstigten des Projekts sind sie froh, endlich auf eigenen Beinen stehen zu können.

Vor unserer Abreise besteht der uns begleitende Scheich auf einen letzten Halt vor dem wichtigsten Heiligtum der Gegend, dem Mausoleum von Scheich Sharaf al-Din aus dem 13. Jahrhundert, der den jesidischen Glauben nach Sindschar brachte.

Doch wie lange wird die daraus entstandene Gemeinschaft noch überleben?

Projektleiterin Irak

Hier können Sie für notleidende Menschen im Irak und anderen Ländern spenden. Herzlichen Dank.

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