Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Grundlage des internationalen Menschenrechtsschutzes. Hauptautor der Erklärung war der Wissenschaftler und ehemalige Aussenminister des Libanon, Dr. Charles Malik. Sein Sohn, der Historiker Habib Malik, gibt im Interview Einblick in die Entstehungsgeschichte.
CSI: Charles Malik soll darauf bestanden haben, dass in der Charta der Vereinten Nationen die angeborenen Rechte jedes Menschen formell garantiert werden. Warum war ihm das so wichtig?
Habib Malik: Seine Überzeugung hat viel mit dem sogenannten Naturrecht zu tun, das auf Thomas von Aquin zurückgeht, der wiederum weitgehend mit Aristoteles übereinstimmt. Es gibt etwas, was dem Menschen angeboren und unveräusserlich ist. Deshalb sprechen wir von Menschenwürde. Diese Würde ist schon da, bevor es überhaupt um Rechte geht. Das ist die Grundlage für Diskussionen über Rechte. Ich denke, mein Vater ging von diesem Verständnis aus.
Nicht alle teilten seine Meinung.
In der Menschenrechtskommission gab es viele Debatten und eine Unmenge von verschiedenen Standpunkten. Mein Vater wollte zum Beispiel das Wort «geschaffen» verwenden, was die anderen jedoch ablehnten mit der Begründung, dass man damit viele Menschen in der säkularen Welt verärgern würde. Die Sowjets hatten Einwände dagegen, und selbst westlichen Delegierten – Australiern, Briten und anderen – war es bei diesem Begriff unwohl. Schliesslich wurde der allgemeinere Begriff «begabt» verwendet, bei dem es jedem selbst überlassen ist zu entscheiden, ob von der Natur, von Gott oder von einem Schöpfer.
Aber Wörter wie «unveräusserlich» und «angeboren» finden sich auch in anderen Dokumenten wie etwa der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten; selbst bei einem so säkularen Dokument wie der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus der Französischen Revolution gibt es in dieser Hinsicht interessante Bezüge. In diesem Sinne macht also die Wortwahl viel aus, wenn es darum geht, Konsens zu erzielen.
Und es war Ihr Vater, der die Präambel geschrieben hat, die die Wörter «angeboren» und «unveräusserlich» enthält?
Ja, und dazu gibt es eine interessante Geschichte. Mein Vater trug sozusagen mehrere Hüte gleichzeitig: Er war Botschafter des Libanon in den Vereinigten Staaten, Leiter der libanesischen Delegation bei den Vereinten Nationen und Berichterstatter im Redaktionsausschuss der Menschenrechtskommission. Unter der Woche musste er also zwischen Washington und New York hin- und herpendeln. An den Wochenenden ging er normalerweise nach Washington. An einem Freitag, bevor er abreiste, sagte Eleanor Roosevelt (die Vorsitzende der Menschenrechtskommission): «Dr. Malik, könnten Sie nicht einen Vorschlag zu einer Präambel für unsere 30 Artikel verfassen?» Im Flugzeug schrieb er einige Zeilen auf die Rückseite eines Umschlags und präsentierte diese am Montag dem Redaktionskomitee. Es folgte eine hitzige Debatte. (Komiteemitglied) René Cassin präsentierte einen längeren, viel sorgfältiger ausgearbeiteten Text. Das Problem bei diesem Text war, dass er zu stark auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs fokussiert war und weniger Bezug auf das Allgemeine nahm, also weniger philosophisch war. Nach langem Debattieren hielt man den Text von Cassin für zu schwerfällig. Die Präambel mit dem heutigen Wortlaut ist der Text meines Vaters.
Wie hat sein Glaube seine Einstellung und Philosophie beeinflusst?
Sehr stark. Mein Vater war nicht einfach nur ein Christ aus dem Nahen Osten. Er kannte die Welt des Islam sehr gut und hatte viele enge muslimische Freunde. Er wurde in der westlichen Welt, an der Harvard-Universität, in Philosophie ausgebildet. Im Libanon begann er mit Mathematik und Physik, ähnlich wie viele andere Philosophen. All dies fand auf die eine oder andere Weise Eingang in die Erklärung. Aber sein christlicher Glaube spielte zweifellos eine sehr grosse Rolle. Er hatte einen sehr tiefen und starken Glauben; er erzählte mir immer, dass er seinen Glauben von seiner Grossmutter väterlicherseits mitbekommen hatte. Er hatte eine sehr gesamtheitliche Vision. Er war aus tiefstem Herzen griechisch-orthodox und liebte die Liturgie und die Musik; während der Sonntagsliturgie war er derjenige, der das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser rezitierte. Gleichzeitig hatte er einen überaus engen Bezug zur römisch-katholischen Theologie, vor allem zu Thomas von Aquin; auch deshalb, weil er sich intensiv mit Aristoteles beschäftigte, was ganz natürlich zu dem Bereich der Philosophie und Theologie gehörte, von dem er sich angezogen fühlte. Und drittens beschäftigte er sich täglich sehr intensiv mit dem Lesen der Bibel, so dass er zur protestantischen Welt Zuneigung gewann und dort ebenfalls viele Freunde fand. Daher war er in gewissem Sinne ein lebendiges Beispiel für einen ökumenischen Christen.
Dass mit Artikel 18 die Religionsfreiheit in die Erklärung eingeschlossen wurde, ist wesentlich Charles Malik zu verdanken. War er mit dem endgültigen Wortlaut zufrieden?
Einen Artikel zum Thema Religion musste es geben. Der Artikel 18 sind seine Worte; sein Vorschlag wurde ohne Änderungen übernommen. Er formuliert darin ausdrücklich, dass jedermann das Recht hat, die Religion zu wechseln. Selbst wenn man den Satz weglässt, kann man dieses Recht aus dem Text folgern; doch die Tatsache, dass er es ausdrücklich genannt hat, war – aus heutiger Sicht – extrem wichtig. Das hat er klar erkannt, da er aus einer Region stammt, wo es nicht einfach ist, die Religion zu wechseln – Apostasie ist, gemäss Scharia, mit dem Tod zu bestrafen.
Was geht aus seinen Unterlagen über die Debatten hervor, die schliesslich zur Abstimmung über den Text der Erklärung geführt haben?
Mein Vater war Vorsitzender des Dritten Komitees der UNO-Generalversammlung, in dem im Herbst 1948 über 80 Sitzungen stattfanden, an denen man jedes einzelne Komma und Wort der Erklärung vor der Schlussabstimmung durchging. Die Sowjets verlegten sich dabei auf eine Verzögerungstaktik; sie wollten das Ganze zum Scheitern bringen. Mein Vater bemerkte dies und sah Spannungen zwischen Ost und West aufkommen. Er besorgte sich also eine Stoppuhr und erklärte an einem der Treffen, dass jeder drei Minuten Zeit zum Sprechen habe, danach sei die nächste Person an der Reihe. Am Abend vor der Abstimmung, die am 10. Dezember stattfand, hielt mein Vater eine denkwürdige Rede, bei der er sorgfältig darauf achtete, jedem Anerkennung zu zollen. In dieser Rede sagte er, dass das Komitee ohne die sowjetische Delegation nicht vollständig für die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte sensibilisiert worden wäre. Das Ergebnis war, dass es keine Gegenstimmen gab. Es gab acht Enthaltungen; alle anderen stimmten dafür.
Wie kam Charles Malik mit den übrigen Mitgliedern des Redaktionskomitees zurecht?
Er hatte ziemlich viele Zusammenstösse mit P. C. Chang, dem chinesischen Vertreter. Das war, bevor China 1949 kommunistisch wurde. Chang war Konfuzianist und ein traditioneller chinesischer Denker. Hin und wieder gab es Gemeinsamkeiten, doch meistens waren sie sich nicht einig. Bei den sowjetischen Delegierten setzte mein Vater sehr klare Grenzen, inwieweit er ihnen zustimmen konnte, insbesondere bezüglich der zentralen Stellung des Menschen und der Ablehnung des Materialismus, und sie taten dasselbe. Mit Cassin kam er bemerkenswerterweise ziemlich gut aus. Mein Vater hatte ein sehr gutes Arbeitsverhältnis mit John Humphrey, einem Kanadier, der für das Sekretariat des Komitees verantwortlich war. Auch mit Eleanor Roosevelt, der Vorsitzenden des Komitees, hatte er ein sehr gutes Arbeitsverhältnis. Sie, mein Vater und Cassin bildeten den harten Kern. Sie trugen sämtliche Debatten und Texte zusammen und präsentierten schliesslich die eigentliche Erklärung.
Mein Vater leitete dieses Unterfangen und nutzte diese zufällige historische «Bresche», wie ich sie nenne, voll aus: Weder die islamische noch die kommunistische Welt waren in der Lage, ein solches Vorhaben völlig entgleisen zu lassen, was sie heute wohl könnten. Gleichzeitig war ausreichend Unterstützung von anderer Seite dafür vorhanden, so dass es zum Erfolg geführt werden konnte. Mein Vater hat dabei eine wichtige Rolle gespielt.
Wie blickte Ihr Vater auf das, was er erreicht hat, in späteren Jahren zurück? Hat er irgend-etwas bereut?
Nein, im Gegenteil, er war sehr stolz auf das, was er getan hat. Ich erinnere mich an den 40. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen, als die noch lebenden Delegierten von damals im Hotel Fairmont in San Francisco versammelt wurden, wo sie 1945 die Vereinten Nationen gründeten. An dieser Versammlung hatte er Gespräche mit den Verbliebenen, und er war mit der Menschenrechtsarbeit ziemlich zufrieden. Nun hat die UNO selbst einen anderen Kurs eingeschlagen, wie wir wissen. Sein Fazit war, dass er trotz aller Probleme eine Welt mit UNO einer Welt ohne UNO vorziehe.
Aber es gab Kritik an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zum Beispiel dass sie 30 Rechte für Einzelpersonen enthält, jedoch keine Verpflichtungen.
Was Pflichten, Verpflichtungen und Rechte betrifft: Wenn Sie von Rechten sprechen, sprechen Sie implizit nicht nur von Ihren eigenen Rechten, sondern von den Rechten aller Menschen. Die Implikation ist also, dass dort, wo Ihre Rechte aufhören, die Rechte von jemand anders beginnen, und dass, wenn Sie dieses Territorium überschreiten, Ihre Verpflichtungen gegenüber den Rechten eines anderen beginnen. Pflichten und Verpflichtungen sind also gewissermassen in einem Konzept mit Rechten enthalten. Müssen Sie diese ausbuchstabieren? Vielleicht.
Was ist mit dem Vorwurf, die Erklärung sei ein westliches Produkt?
Wenn Sie sich die Zusammensetzung der Menschenrechtskommission und die Vertreter der grösseren Delegationen ansehen, die an jedem Wort gearbeitet haben, so waren alle vorhanden. Frau Hansa Mehta vertrat Indien, und sie trug viel bei zu den Diskussionen. Wir hatten Muslime im grösseren und im kleineren Komitee, wir hatten Chinesen, wir hatten die Sowjets, wir hatten Christen, Westler – alle. Ich halte dieses Argument nicht für legitim. Es gab jede Gelegenheit für alle, sich zu äussern.
70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Wie erfolgreich war sie angesichts der weltweiten Konflikte und der Missachtung der Menschenrechte in so vielen Regionen?
Die Allgemeine Erklärung ist rechtlich nicht bindend; sie ist eine Erklärung. Die internationalen Menschenrechtspakte, die schliesslich 1966 zustande kamen, sind verbindlich, aber gerade weil sie verbindlich sind, sehen sie eine Ausnahmeklausel für die Staaten vor. Eine rein moralische Erklärung, wie es die Allgemeine Erklärung ist, hat sich als viel effektiver erwiesen als die bestehenden rechtsverbindlichen Dokumente, die die Staaten unterzeichnet haben.
Es war viel attraktiver für Gruppen wie Charta 77, Bürgerforum, alle antikommunistischen, osteuropäischen Bewegungen. Sie alle haben die Allgemeine Erklärung als Banner genommen, nicht die internationalen Pakte. Dasselbe geschah in Südafrika gegen die Apartheid. Die moralische Kraft dieser Erklärung – 30 Artikel und eine Präambel – war für Menschen, die die Apartheid oder den Kommunismus loswerden wollten, so attraktiv, dass dies wohl ihre beiden Haupterfolge sind. Die universellen Rechte sind erhalten geblieben und dank der Allgemeinen Erklärung wurden sie systematisch niedergeschrieben.
Sollte für die Gegenwart eine neue Menschenrechtserklärung entworfen werden?
Würden Sie dieselbe Übung heute machen, wäre sie wohl erfolglos. Es war wirklich eine Frage von drei oder vier Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder den Nürnberger Prozessen und 1949, als der Kalte Krieg begann. Es ist wohl das wichtigste internationale Dokument des 20. Jahrhunderts, und seine Entstehung fand in einem sehr interessanten und zufälligen Moment statt – in der historischen «Bresche», wie ich sie genannt habe.
Ich denke, was wir von 1948 haben, ist eine hervorragende Richtlinie, die man ohne Ende überdenken, optimieren und vervollkommnen kann. Dies ist jedoch kein grünes Licht, um ein ganzes Heer von fragwürdigen angeblichen Rechten oder Scheinrechten einzubringen ohne ordentliche Debatte und eingehende Prüfung, ob sie wirklich geeignet sind, als Rechte zu gelten oder nicht.
Habib Malik von der Lebanese American University in Byblos, Libanon, ist Autor des Buchs «The Challenge of Human Rights: Charles Malik and the Universal Declaration». Er forscht hauptsächlich zur Geschichte des Nahen Ostens. Im Oktober 2018 hielt er auf Einladung von Christian Solidarity International in Zürich und Boston (USA) einen Vortrag über die Gross- und Regionalmächte im Nahen Osten und ihren Einfluss auf den sozioreligiösen Pluralismus. www.www.csi-schweiz.ch/malik
Christian Solidarity International (CSI) ist eine christliche Menschenrechtsorganisation für Religionsfreiheit und Menschenwürde. Artikel 18 der UNO-Menschenrechtserklärung zur Religionsfreiheit gehört – zusammen mit den biblischen Prinzipien des Mitleidens und der Nächstenliebe – zu den Grundlagen von CSI. Das Interview wurde von den beiden CSI-Mitarbeiterinnen Morven McLean und Hélène Rey geführt.
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