17. Januar 2018

«Vertreibung des Islamischen Staats ist einmalige Chance»

John Eibner von Christian Solidarity International reiste Ende Dezember 2017 in den Irak, um mit Regierungsvertretern zu sprechen und das ehemalige Herrschaftsgebiet des Islamischen Staats zu besuchen. Die Reise fand in Zusammenarbeit mit der Hammurabi-Menschenrechtsorganisation statt, einer irakischen NGO. Das folgende Interview wurde vom berühmten irakischen Journalisten Adil Saad geführt und am 9. Januar 2018 in der einflussreichen irakischen Tageszeitung Az-Zaman publiziert. Der Journalist wollte wissen, wie John Eibner die aktuelle Situation einschätzt und welche Perspektiven er für die Zukunft sieht.

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Einige Aussagen flossen in einen Artikel ein, der am 16.01.2018 im Tages-Anzeiger erschienen ist (Seite 8).

Az-Zaman: Sie haben die Provinz Ninive besucht, die im Sommer 2014 vom Islamischen Staat eingenommen wurde. Hunderttausende ergriffen damals die Flucht. Ende 2016 wurden weite Teile zurückerobert. Sind die Flüchtlinge zurück?

Dr. John Eibner: Die militärische Niederlage des Islamischen Staats (IS) und die Rückeroberung der Provinz Ninive durch die irakische Armee und staatliche und nichtstaatliche Verbündete hat die Sicherheitslage stark verbessert. So fragil diese Sicherheit auch sein mag, die grundlegende Voraussetzung für den Wiederaufbau in einem stabilen Umfeld ist jetzt gegeben.

In den überwiegend christlichen Ortschaften Hamdaniya, Keramles und Telskuf habe ich gesehen, wie vertriebene Familien in ihre Häuser zurückkehrten. Häuser werden repariert und wiederaufgebaut, in der Regel mit der Unterstützung von Kirchen, NGOs und der ungarischen Regierung.

Aber viele, vielleicht die Mehrheit, werden nicht zurückkehren. Ein grosser Teil der Einwohner dieser Orte befindet sich jetzt im Ausland – in Europa, Nordamerika und Australien – und wird sich nie mehr im Irak niederlassen. Andere werden im irakischen Kurdistan bleiben oder in Bagdad. Von jenen, die jetzt in ihre Häuser zurückgekehrt sind, werden vermutlich einige ihre Häuser nur instand setzen, um sie zu verkaufen. Sie werden den Irak verlassen, sobald sie einen Weg finden, in den Westen überzusiedeln.

Das Leben in der Provinz Ninive wird nie mehr so sein wie vor 2014, als sie vom IS überrannt wurde. Trotzdem: Wenn es guten Grund gibt, Vertrauen in eine langfristig stabile Sicherheitslage zu haben, kann man erwarten, dass ein beträchtlicher Teil der verbleibenden christlichen Bevölkerung in der Gegend bleibt. Wenn ich von Sicherheit spreche, meine ich nicht nur die Abwesenheit von Gewalt, sondern auch das Ausbleiben von Bemühungen der Machthabenden, den demografischen Wandel weiter voranzutreiben. Die Anwesenheit so vieler unterschiedlicher Streitkräfte, die jeweils verschiedenen Herren dienen – und das in einem Gebiet, das als „umstritten“ bezeichnet wird –, lässt nicht gerade Vertrauen in längerfristige Sicherheit aufkommen.

Sie haben auch Mosul besucht. Wie ist die Situation dort?

Mosul erinnert mich an die apokalyptischen Szenen, die ich in Aleppo, Homs und Teilen von Damaskus gesehen habe. Während Stadtteile von Mosul weitgehend intakt und funktionsfähig sind, liegt die Altstadt in Trümmern. Es ist kaum vorstellbar, dass sie jemals so wiederhergestellt sein wird wie einige ähnlich zerstörte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Mosul ist zwar im Moment sicher. Der IS ist verschwunden, ebenso jedoch auch ein grosser Teil der Bevölkerung einschliesslich vieler IS-Sympathisanten. Wer zurückgeblieben ist, ist häufig traumatisiert. In der Altstadt kann man keine ernsthaften Reparaturarbeiten feststellen, geschweige denn Wiederaufbau. Es ist praktisch eine Geisterstadt, abgesehen von den Milizen sowie einigen Menschen, die versuchen, die Trümmer aus ihren Häusern zu räumen.

In den Ruinen von Kirchgebäuden sah ich mindestens ein halbes Dutzend verwesender Leichen von IS-Kämpfern. Dass sie immer noch dort liegen, obwohl die Altstadt bereits im vergangenen Sommer unter massiver Zerstörung befreit wurde, spricht Bände darüber, wo sich die irakische Regierung und ihre Koalitionspartner auf dem Rückweg zur Normalität befinden. Die vertriebenen Christen zu ermutigen, ihre Zukunft weiterhin in Mosul zu sehen, hat bei den Behörden offensichtlich keine Priorität. Nach beinahe 2000-jähriger Präsenz der Christen in Mosul scheint es dort bald keine Christen mehr zu geben.

Was die vielen vertriebenen Sunniten betrifft, so ist es ebenfalls ungewiss, ob sie zurückkehren können. Den Behörden in Bagdad ist lebhaft in Erinnerung, wie herzlich der IS 2014 empfangen wurde, und sie sind sich dessen bewusst, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nach wie vor mit der IS-Ideologie sympathisiert, auch wenn der IS besiegt ist. Einige junge Männer aus Mosul, darunter auch ein Imam, äusserten mir gegenüber die Vermutung, dass etwa 10% von Mosuls Bevölkerung die IS-Ideologie verinnerlicht habe. Das ist zwar eine Minderheit, aber in einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern trotzdem eine grosse Anzahl und ein Sicherheitsrisiko für die Zukunft.

Die religiöse Minderheit der Jesiden litt besonders stark unter dem Islamischen Staat. Wie ist ihre Situation heute?

Ich bin nicht nach Sindschar gegangen, habe aber mit Jesiden gesprochen. Ich bekam den Eindruck, dass die Situation in Sindschar sehr viel schwieriger ist als in den vorwiegend christlichen Städten und Dörfern. Eine Vielzahl von Streitkräften mit unterschiedlichen politischen Zielen konkurrieren miteinander. Keiner von ihnen liegen die Interessen der Jesiden am Herzen. Nur wenige der vertriebenen Jesiden sind in ihre Häuser zurückgekehrt. Reparaturarbeiten und Wiederaufbau haben noch kaum begonnen.

Viele Jesiden sind stark traumatisiert. Es scheinen noch immer Tausende von jesidischen Frauen und Kindern vermisst zu werden. Einige vermuten, dass sich eine grosse Anzahl der verschollenen jesidischen Kinder in Flüchtlingslagern für die Flüchtlinge aus Mosul befindet und dort „adoptiert“ und islamisiert wurde.

Welche Schritte sind nötig, damit im Irak Ruhe und Ordnung einkehren?

Die Niederlage des IS bietet eine einmalige Chance für eine neue Ära der Stabilität, in der alle Iraker, unabhängig von ihrer religiösen und kulturellen Identität, in Frieden und Würde leben können. Dies wird allerdings nur geschehen, wenn der irakische Staat gestärkt wird, gleiche Bürgerrechte für alle einführt sowie internationale Menschenrechtsnormen respektiert.

Das allein wird allerdings nicht genügen. Die ausländischen Mächte müssen auf ihre Regimewechsel-Politik verzichten und aufhören, den Irak und Syrien als Kampfgebiet für Stellvertreterkriege zu benutzen. Stattdessen müssen sie rasch bedeutende Summen für den Wiederaufbau bereitstellen. Wenn diese schwierigen Voraussetzungen erfüllt sind, haben die Provinz Ninive und der Rest des Landes eine Chance. Sind sie es jedoch nicht, wird die relative Ruhe, die jetzt im Irak herrscht, höchstwahrscheinlich nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm sein.

Sie haben verschiedene Regierungsbeamte getroffen. Wie beurteilen Sie deren Kooperationsbereitschaft mit Christian Solidarity International und anderen Organisationen?

Ich wurde von den Regierungsbeamten in Bagdad sehr höflich empfangen. Wir konnten offen und konstruktiv miteinander sprechen. Wir besprachen vor allem die Situation der Minderheiten. Ein Thema war die Konferenz, die schon vor Monaten hätte stattfinden sollen. Dort hätten die Standpunkte von Minderheiten-Vertretern gesammelt werden sollen, um in das Wiederaufbau-Programm der Regierung einzufliessen.

Ich gewann bei mehreren Treffen die Überzeugung, dass hochrangige Beamte eine solche Konferenz als unerlässlich für den Prozess zur nationalen Stabilisierung ansehen. Bei anderen Treffen hatte ich jedoch den Eindruck, dass der Einbezug der Minderheiten, um eine gemeinsame Vision für die Zukunft zu entwickeln, keine hohe Priorität hat. Hoffentlich wird der Ministerpräsident bald in der Lage sein, sich dem Thema zu widmen und allen in der Regierung klarzumachen, dass die konstruktive und energische Behandlung von Minderheitenfragen nicht nur im Interesse der Minderheiten, sondern auch im nationalen Interesse liegt, gerade weil so viele Minderheiten in den sogenannt umstrittenen Gebieten leben.

Sie sind für Christian Solidarity International in vielen verschiedenen Ländern unterwegs. Wie sehen Sie die Hilfsprogramme allgemein auf der Welt und was ist die Besonderheit der Hilfsprogramme im Irak?

Man kann bei Hilfsprogrammen nicht verallgemeinern. Es ist klar, dass einige von ihnen entscheidend sind, um Leben zu retten oder die Lebensqualität zu verbessern und sie so den Staaten helfen, ihre grundlegenden Pflichten gegenüber ihren Bürgern zu erfüllen. Aber wir alle wissen, dass Hilfsprogramme im Irak und anderswo in der Welt nicht vor Korruption und Ineffizienz gefeit sind. Je schwächer der Staat ist, desto grösser ist der Freiraum für Korruption und Ineffizienz. Seit dem Beginn des Irakkriegs 2003 ist der irakische Staat extrem schwach. Es gibt Anzeichen, dass er zu erstarken beginnt, und wir können nur hoffen, dass sich diese Entwicklung beschleunigt.

Hinter vielen menschenrechtlichen und humanitären Programmen von anderen Staaten stehen politische Ziele. Was kann man dagegen tun?

Die meisten humanitären Hilfsprogramme werden von Staaten finanziert oder von Stiftungen, die mit den jeweiligen Staaten gemeinsame Interessen teilen. Geberstaaten sehen die humanitäre Hilfe allgemein als Mittel der Einflussnahme (soft power). Es ist unvermeidlich, dass humanitäre Hilfe mit politischen Zielen verknüpft wird. Einige politische Absichten sind transparent und stehen im Einklang mit den Bestrebungen der Hilfsempfänger. Bei anderen ist das nicht der Fall. Im schlimmsten Fall benutzen die Staaten NGOs als Tarnung für Geheimdienstaktivitäten. Solche Praktiken schaden den NGOs, die ein echtes Abbild der Zivilgesellschaft darstellen, enorm, da sie NGOs generell in einem schlechten Licht erscheinen lassen.


Die vorliegende Fassung wurde leicht bearbeitet und gekürzt. Original (arabisch) in der irakischen Tageszeitung Az-Zaman (09.01.2018).

Dr. John Eibner ist bei Christian Solidarity International Projekt-Verantwortlicher für den Nahen Osten. Er ist Herausgeber des neu erschienenen Sammelbands „The Future of Religious Minorities in the Middle East“, Lanham, Lexington Books, 2018.

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