26. November 2016

122 Prozent mehr Opfer von Menschenhandel

Mit ihrem Appell gegen den Menschenhandel hat Parul Singh die Besucher am CSI-Tag zutiefst betroffen gemacht. Im Interview erklärt die Inderin, wie sie sich trotz Hindernissen für die Opfer dieses Verbrechens engagiert.

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Parul Singh*, es freut uns, dass Sie am CSI-Tag deutliche Worte gegen den Menschenhandel fanden. Indien gilt als Hauptquellenland für dieses Verbrechen. Hat sich die Lage dennoch etwas verbessert?

Leider nicht: In den letzten drei Jahren wurden im Vergleich zu vorher 122 % mehr Kinder Opfer von Menschenhändlern. Im Bundesstaat Jharkhand fallen jährlich über 30 000 Menschen dem Menschenhandel zum Opfer. Erschreckend ist, dass die Mehrheit der Entführten Kinder unter 18 Jahren ist. Sie werden in die Prostitution gezwungen oder als Haushaltshilfen ausgenutzt. Vereinzelt werden sie auch als «Heilige Prostituierte» an einen Hindu-Priester verkauft.

In diesem skrupellosen Geschäft stehen Frauen den Männern jedoch in nichts nach. Die Hälfte der Menschenhändler in Indien ist weiblich. Eifersucht und Gier sind häufig ihre Triebfeder.

 

Welches sind die Hauptgründe dieses schrecklichen Zustands?

In Indien herrscht eine Kultur der Unterdrückung. Leute aus höheren Kasten haben kaum Verständnis dafür, dass man Menschen aus der untersten Kaste, den Dalits, helfen soll. Und gerade unter den Dalits fallen viele dem Menschenhandel zum Opfer, da sie oft bitterarm sind und mit falschen Jobversprechungen leicht geködert werden können.

Kommt dazu, dass viele Angehörige Entführungen ihrer Kinder nicht melden. Und selbst wenn sie die Polizei benachrichtigen, ist ihnen die Hilfe nicht garantiert: Nicht selten steckt die Polizei mit den Zuhältern unter einer Decke. Noch perfider ist es, wenn sich Menschenhändler als Evangelisten ausgeben und so das Vertrauen der christlichen Dalits missbrauchen. Auch das gibt es leider.

Ferner spielen die Nachbarländer eine wichtige Rolle. Die Grenze zu Bangladesch ist sehr durchläßig, mit dem Resultat, dass jährlich 300 000 Mädchen aus Bangladesch nach Indien geschleust werden. Auch Nepal ist im Menschenhandel mit Indien dick im Geschäft. Nepalesinnen sind besonders begehrt, weil sie eine hellere Haut- und Haarfarbe haben als Inderinnen.

 

Trotz dieser Verbreitung ist der Menschenhandel in Indien illegal. Was unternimmt die Politik?

Viel zu wenig. Gegen außen brüsten sie sich gerne mit wohlklingenden Parolen gegen den Menschenhandel. Doch sie setzen sich nicht für die Opfer ein, schon gar nicht, wenn es sich, wie fast immer, um Dalits handelt.

 

Wie sieht Ihr Einsatz gegen den Menschenhandel aus?

Wir haben drei Bereiche: Prävention, Befreiung und Rehabilitation. Bei der Prävention haben sich Selbsthilfegruppen (SHG) zu einem effizienten Instrument entwickelt. Nebst der Aufklärungsarbeit durch Gespräche leihen wir den Gruppen Geld für Kleingewerbe aus. So erzielen sie ein Einkommen, um die wirtschaftliche Not – eine Ursache des Menschenhandels – zu lindern. Die Anzahl dieser SHG mit bis zu 15 Teilnehmenden wächst stetig. Derzeit sind es 45, wobei deren zehn reine Männergruppen sind, was uns besonders freut. Auch in Westbengalen, wo wir seit Ende 2015 aktiv sind, gibt es mittlerweile sieben SHG. Das Kleingewerbe besteht dort vor allem aus der Fischerei.

Im Weiteren veranstalten wir Informationskampagnen, führen Horte zum Schutz der Kinder und organisieren Mahnwachen mit z. T. mehreren 1000 Teilnehmenden. Eine große Hilfe sind auch ehemalige Opfer des Kinderhandels, die als Fürsprecher für gefährdete Kinder auftreten. Als Direktbetroffene können sie die Gefahr des Menschenhandels besonders gut kommunizieren.

 

Sie haben auch die Befreiung von Opfern angesprochen.

Dieses Jahr konnten wir bisher rund 100 Kinder befreien. Das ist deutlich mehr als im Vorjahr. Wir verdanken dies vor allem den SHG. Sehr oft arbeiten wir gut mit vertauenswürdigen Polizisten zusammen. Ebenso wichtig ist die Rehabilitation. Denn die Opfer vom Menschenhandel sind schwer traumatisiert. Zudem können sie oft nicht zu ihren Eltern zurück. Sie gelten vielfach als Schande in der Familie und werden ausgestoßen. Ferner besteht das Risiko, dass die geretteten Kinder von ihren Eltern wieder verkauft werden.

 

Es soll ja ein Rehabilita­tionszentrum für befreite Opfer gebaut werden.

Ja, dieses wird am Rande von Jharkhands Hauptstadt Ranchi Platz für 40 Kinder bieten. Die Bauarbeiten haben begonnen. Wir hoffen, das Reha-Zentrum Ende 2017 zu eröffnen.

 

In Zusammenarbeit mit CSI sind Sie auch in Kanke, einem Slumgebiet von Ranchi, aktiv. Wir hatten Kanke im November 2015 besucht. Dabei waren wir vor allem von Balku* beeindruckt, der sich dort gegen den Menschenhandel einsetzt (Magazin 02/16).

Balku engagiert sich nach wie vor als einziger Mann mutig für die Kinder und unterrichtet sie in Lesen und Schreiben. Auch seine Mutter sowie Lalita*, die Hauptverantwortliche der SHG in Kanke, setzen sich mit ganzer Kraft für den Schutz der Kinder ein. Sie sind nicht mehr so verunsichert wie noch vor einem Jahr. Erfreulich ist zudem, dass wir bald deren Produkte aus dem Kleingewerbe, Bambuskörbe, vermarkten können.

 

Etwas westlich von Ranchi trafen wir im November 2015 auch Suraj, der vor zwei Jahren befreit wurde und eine Anlehre als Automechaniker absolvierte.

Suraj hat seine Anlehre abgeschlossen und arbeitet nun bei einer Autoreparatur-Werkstatt. Er konnte die Rehabilitation erfolgreich beenden und hat vor kurzem geheiratet.

 

Parul SIngh, Sie engagieren sich unerschrocken im Kampf gegen den Menschenhandel. Woher nehmen Sie die Motivation?

Einmal monatlich muss ich meine Familie zurücklassen, um in unsere Projektgebiete in Jharkhand und Westbengalen zu reisen. Meine Arbeit ist nicht ganz ohne Risiko, da wir uns auch im Umfeld von Menschenhändlern bewegen, die uns nicht gerne sehen. Auch müssen wir immer wieder mit Rückschlägen fertig werden. Doch nach meiner christlichen Überzeugung dürfen wir ist es nicht zulassen, dass Gottes wunderbare Kinder missbraucht werden. Und was gibt es Schöneres, als zu sehen, wie sich das Leben eines Kindes zum Guten wandelt? Selbst wenn die gerettete Person nicht Christ ist, erfährt sie in einem solchen Moment Gottes Liebe.

Reto Baliarda

 

 

* Namen geändert