Zeina Chahine: «Wir Libanesen sind trotz allem ein fröhliches Volk mit einem eisernen Willen»

Die libanesische CSI-Nahost-Korrespondentin Zeina Chahine macht sich grosse Sorgen um ihre Heimat. Der Krieg und die schwere Wirtschaftskrise setzen dem Libanon arg zu. Doch die multireligiöse Bevölkerung sei bekannt für ihren starken Lebenswillen, bemerkt Zeina im CSI-Interview.

Trotz all dem Elend in ihrem Land glaubt Zeina Chahine an die Zukunft des Libanon. csi

CSI: Worüber berichten die libanesischen Medien derzeit in erster Linie?

Zeina Chahine: Der Krieg im Süden des Landes und die Präsidentschaftswahlen sind natürlich sehr präsent. Die Parteien sind sich immer noch nicht einig, wer der nächste Präsident werden soll. Auch die Frage der syrischen Flüchtlinge im Libanon ist ein häufig angesprochenes Problem, ebenso die wirtschaftliche Lage.

Bekommen Sie den Krieg persönlich zu spüren?

In meiner Wohngegend in Beirut ist es momentan ruhig. Der Krieg tobt derzeit im Süden. Doch auch andere Regionen wie Bekaa werden bombardiert. Und wer weiss, ob und wann der Rest Libanons in den Krieg verwickelt wird. Wir haben viele südlibanesische Flüchtlinge, die von ihrer Regierung im Stich gelassen werden. Ich empfinde eine ungeheure Traurigkeit über all die verlorenen Leben im Krieg im «Heiligen Land», ohne dass jemand die Gewalt stoppt.

In meinem Leben war es selten über einen längeren Zeitraum wirklich ruhig. Aber heute rechnen wir dauernd mit dem Schlimmsten. Dies vor allem, weil die internationalen Gesetze nicht eingehalten werden.

 

Können Sie nachts schlafen?

Ja, aber es kommt vor, dass ich mehrmals aufwache.

Ihr ganzes Leben sind Sie mit Leid konfrontiert. Von 2017 bis 2021 lebten Sie in Syrien. Haben Sie gelernt, mit einer überdurchschnittlichen Angst umzugehen?

Die Kriege haben mich stärker wie auch ängstlicher gemacht. Ich habe eine kindliche Angst, die mich begleitet, seit vor einigen Jahren in Syrien eine Bombe 50 Meter von mir entfernt explodiert ist.

Am meisten Sorgen mache ich mir aber um meine verwitwete Mutter. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, für ihre Sicherheit zu sorgen. Deshalb möchte ich mich nicht unnötig in Gefahr bringen.

Konkret: Sie verlassen Ihr Haus, um einkaufen zu gehen. Was geht Ihnen durch den Kopf?

Es ist nicht so, dass ich dann eine Panikattacke bekomme. Ich lebe sozusagen «normal» mein Leben, kümmere mich um die alltäglichen Dinge und weiss, dass jederzeit etwas passieren kann.

Was beschäftigt die Libanesen noch?

Seit über zehn Jahren haben wir etwa zwei Millionen syrische Flüchtlinge bei einer Bevölkerung von rund fünf Millionen Einwohnern. In letzter Zeit haben die Spannungen zugenommen. Der Druck auf sie, das Land zu verlassen, wird grösser, da der Libanon die wirtschaftliche Belastung durch ihre Anwesenheit nicht mehr tragen kann.

Wie sind die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen im Libanon?

Die Probleme des Landes sind keine religiöse Frage, auch wenn viele dies gerne so darstellen. Die Wirtschaftskrise ist das, was uns am meisten Sorgen bereitet. In diesem Zusammenhang ist der Schulbesuch der Kinder das erste, was Familien beschäftigt. Denn die Kosten für eine gute Schule, von denen viele religiösen Gemeinschaften gehören, sind enorm.

Bei den öffentlichen Schulen sind die Gehälter der Lehrkräfte niedrig. Der Staat hat nicht mehr die Mittel, um den reibungslosen Schulbetrieb zu gewährleisten. Wegen der Wirtschaftskrise können sich die Menschen auch nicht wirklich medizinisch versorgen lassen.

Wie schlimm ist die Wirtschaftskrise?

Unser Land befindet sich seit 2019 in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Durch die Abwertung des Libanesischen Pfundes erhält ein Arbeitnehmer, der früher 1500 US-Dollar im Monat verdient hat, heute nur noch 100 oder 150 US-Dollar.

Die Löhne der Staatsangestellten sind noch weiter gesunken als im Privatsektor. Aber auch hier reicht das Durchschnittseinkommen von 200 bis 400 Dollar nicht zum Leben aus. Allein die Monatsmiete für eine Wohnung beträgt durchschnittlich 400 Dollar.

Wie wirkt sich die Krise auf den Alltag aus?

Man ist ständig am Abwägen, ob etwas gekauft werden kann. Eltern nehmen ihre Kinder nicht mehr mit in den Supermarkt. Dies aus Angst und Scham, dass die Kinder nach Süssigkeiten fragen, die sie sich nicht leisten können. Auch in unserer Familie wird derzeit nur sonntags Fleisch gegessen.

80 Prozent der Libanesen leben heute unterhalb der Armutsgrenze. Die Libanesen sind als tüchtige Geschäftsleute bekannt. Die Banken symbolisierten unseren Reichtum. Das ist Vergangenheit.

Wie steht es um die Energieversorgung?

Die Regierung garantiert uns weder Wasser noch Strom. Die Parallelsysteme, die es schon vorher gab, haben sich vervielfacht: wie die Generatoren in der Nachbarschaft, die individuelle Wasserversorgung. Dies ist jedoch sehr teuer, da wir für dieselben Leistungen zweimal bezahlen.

Ein Liter Benzin kostet etwa einen Dollar. Aber wir können nicht mehr als 55 Dollar pro Monat von der Bank abheben. Die Libanesen haben keinen Zugang mehr zu ihren eigenen Konten. Das war der Hauptgrund für den Zusammenbruch.

Was ist in dieser herausfordernden Zeit Ihr grösster Wunsch für Ihr Land?

Dass wir endlich in Frieden und Stabilität leben können. Trotz allem sind wir ein fröhliches Volk mit einem eisernen Willen. Wir sind in der Lage, auch mitten im Krieg zu leben. Im Libanon besteht zudem eine gelebte Solidarität zwischen den Menschen. Das macht mir Mut.

 

Zeina Chahine (43) lebt mit ihrer Mutter in Beirut. Als Nahost-Korrespondentin von CSI reist sie regelmässig nach Syrien, um über die Projektarbeit von CSI vor Ort zu berichten.

Reto Baliarda

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