In einem vergessenen Land Hoffnung säen

Zwar wird in Syrien kaum noch gekämpft, dennoch ist die Situation unhaltbar. Im gebeutelten Land herrscht weder Krieg noch Frieden. Der Krieg hat viel zerstört, unter den Sanktionen leidet die Bevölkerung. Der fehlende Friede verhindert Versöhnung und Wiederaufbau. Auch dank der Unterstützung von CSI können wir unsere Hilfsprojekte weiterführen. Sie sind wichtiger denn je. Von Nabil Antaki

Aleppo Trümmer Nabil Antaki

Syrien leidet: Die zerbombte Altstadt von Aleppo; Dr. Nabil Antaki. csi

 

Das ukrainische Volk erlebt eine weltweit noch nie dagewesene Solidarität. Vor allem westliche Staaten, internationale Verbände, Uno-Organisationen, NGO’s und Privatpersonen handeln grosszügig, um das Leid von Flüchtlingen, Vertriebenen und Verwundeten zu lindern. Von Beginn des Konflikts an förderten die Medien diese Solidarität, in dem sie schrieben, dass der Krieg in der Ukraine «Menschen wie uns trifft, die sich kleiden wie wir und die in Städten leben, die wie die unseren ausschauen». Als ob der Einsatz zur Linderung von Leid von solchen Kriterien abhinge!

Diese Kriege hätten verhindert werden können

Ohne eine politische Kontroverse lostreten zu wollen, bin ich überzeugt, dass dieser Krieg hätte vermieden werden können. Genauso hätte der Krieg in Afghanistan vermieden werden können, der mit dem Abzug der amerikanischen Truppen endete, nachdem er Hunderttausende von Toten gefordert und Billionen von Dollar gekostet hatte. Ein Kolumnist kommentierte: «All das für das hier!» Man hätte auch den Krieg in Syrien vermeiden können, der vor mehr als elf Jahren begonnen hat und noch immer nicht beendet ist. Der Krieg hat 500.000 Menschen das Leben gekostet und Hunderttausende von Verletzten und Amputierten Qualen zugefügt. Auch hat er 5 Millionen Menschen zur Flucht in die Nachbarländer, 1 Million zur Migration in den Westen und 8 Millionen zum Verlassen ihrer Häuser gezwungen. Krieg und Sanktionen haben das Land ruiniert, die Bevölkerung verarmt. Hinter den fadenscheinigen Begründungen für diese Kriege stecken inakzeptable geopolitische Überlegungen, verwerflicher Machiavellismus und schändlicher Zynismus. Diese drei Kriege hätten wir vermeiden können und sollen.

Ein unhaltbarer Zustand

In Syrien wird seit Jahren fast nicht mehr gekämpft, dennoch ist der Zustand von «weder Krieg noch Frieden» unhaltbar! Der Krieg hat viel zerstört, aber der fehlende Friede verhindert den Wiederaufbau und die Versöhnung. Die wirtschaftliche Lage in Syrien ist katastrophal. 82 Prozent der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze; 60 Prozent sind mangelernährt, die Arbeitslosenquote ist enorm, die Inflation schiesst durch die Decke, die meisten Familien kommen nicht über die Runden; die syrische Währung hat 90 Prozent ihres Wertes verloren; die Preise steigen täglich. Das eingeschränkte Angebot an Waren verschärft die Armut und führt zur Rationierung von Brot, Benzin, Strom und vielen lebensnotwendigen Gütern.

Hilfe ist nötiger denn je

Angesichts dieser Verschlimmerung des Leidens wird die Aufgabe der Blauen Maristen noch wichtiger. Internationale Organisationen wie Christian Solidarity International und viele Freunde unterstützen uns dabei. Dank dieser moralischen und finanziellen Unterstützung sind wir in der Lage, unsere Hilfsprojekte sowie die Bildungs- und Entwicklungsprogramme weiterhin aufrechtzuerhalten. In Aleppo leben noch immer im Krieg vertriebene Familien. Wir verteilen jeden Monat 832 Körbe mit Lebensmitteln an die bedürftigsten von ihnen und zahlen die Miete für 200 Familien, die noch nicht nach Hause zurückkehren können. 150 Menschen nehmen jeden Monat unser medizinisches Programm in Anspruch, um teure Operationen, Rezepte für chronische Krankheiten oder sehr teure CT-Untersuchungen bezahlen zu können. Unser Projekt «Drop of Milk» setzt die monatliche Verteilung von Milch fort, die für das Wachstum von 3.000 Kindern und Säuglingen notwendig ist. Unser Projekt «Sharing Bread» versorgt 230 Senioren über 80 Jahren, die allein leben und niemanden haben, der sie unterstützt, täglich mit einer warmen Mahlzeit.

Die Elite verlässt das Land

Wir wollen, dass junge Menschen in Syrien bleiben und nicht auswandern. Das Land und die Gesellschaft brauchen sie. Wir sind traurig, dass Tausende von syrischen Ärzten nach Deutschland und Frankreich ausgewandert sind. Gestern teilte mir ein Freund und Kollege, ein Gastroenterologe und Endoskopiker, mit, dass er vor einigen Monaten nach Frankreich ausgewandert sei. Er hatte hier einen guten Ruf, ist sehr kompetent und seine Praxis war ausgelastet. Als ich nach dem Grund für seinen Wegzug fragte, antwortete er, er müsse an die Zukunft seiner Kinder denken. Wegen des Krieges hat Syrien seine Elite verloren. Akademiker, Ingenieure, Informatiker und Ärzte, die kostenlos an syrischen Universitäten studiert und ausgebildet wurden und am Wiederaufbau des Landes hätten mitwirken können, sind in die Golfstaaten oder nach Europa ausgewandert. Diese Länder profitieren von den in Syrien ausgebildeten Fachkräften, während sie scheinheilig die Einwanderung kritisieren, die doch für ihre Wirtschaft so wichtig ist.

Ausbilden und Starthilfe geben

Damit die junge Generation in Syrien bleibt, braucht es Arbeitsplätze. Drei unserer Programme dienen diesem Zweck. Das «Marist Institute for Training MIT» bildet Erwachsene in verschiedenen Gebieten aus. Das Programm «Micro-Projects» finanziert Kleinprojekte. In sechs Jahren haben wir mehr als 200 Kleingewerbe finanziert. Trotz Ausbildung und Begleitung liessen Wirtschaftskrise, Inflation und hohe Kosten für Mieten und Waren einige der anfänglich vielversprechenden Projekte leider wieder scheitern. Es gab aber auch manchen Erfolg. Ich denke an T.J., der eine Autowerkstatt eröffnet hat, an A.B., der Leitern herstellt oder an S.A. und A.C., die jetzt einen Friseursalon betreiben. Papst Franziskus würdigte im August den Mut, die Kreativität und die Bemühungen der Kleinunternehmer. Er rief auf, für sie zu beten, damit sie die nötigen Mittel finden, um ihre Tätigkeit im Dienst der Gemeinschaften, in denen sie leben, fortzusetzen. Unser Berufsausbildungsprogramm ermöglicht es, junge Leute als Lehrlinge bei Fachleuten unterzubringen, damit sie dort einen Beruf erlernen. 20 Personen haben ihre Ausbildung bereits abgeschlossen und 20 weitere befinden sich im Lernprozess. R.E. lernte in einem Jahr (seine Lehre dauerte insgesamt 18 Monate) Handys zu reparieren. Sein Chef sagte uns, dass er ihm nichts mehr beibringen könne. Er stehe nun auf eigenen Füssen.

Förderprogramme laufen mit CSI-Unterstützung weiter

Durch die Unterstützung vieler Gönnerinnen und Gönner laufen unsere Programme weiter. Zum Beispiel das Programm «Heartmade»: 16 Frauen finden Arbeit, indem sie aus Stoffresten Damenbekleidung herstellen. Seit dem Start unseres Dienstes machten wir es uns zur Aufgabe, ein Projekt nur dann ins Leben zu rufen, wenn wir dafür einen Bedarf sehen. Und wir schliessen ein Projekt wieder, wenn am Markt kein Bedarf mehr dafür besteht. Also haben wir kürzlich das Programm «Ich lerne zu wachsen» eingestellt. Das Projekt «Ich will lernen» hingegen wird weitergeführt: 120 Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren werden betreut und unterrichtet. Die Sommerlager am Ende des Schuljahres wurden so gestaltet, dass sie Kindern aus vertriebenen Familien Freude vermittelten, etwas fürs Herz. Ebenso bewirkt das psychosoziale Unterstützungsprogramm «Seeds» weiterhin Wunder unter den 450 teilnehmenden Kindern. Das Gleiche gilt für «Women Development», «Cut and Sew» und «Hope». Um allen Bedürfnissen und Anfragen gerecht zu werden, wurden diese Förderprogramme nacheinander im Drei-Monats-Rhythmus angeboten.

Jetzt liegt es am Westen

Nach elf Jahren Leid, Drama, Migration und Entbehrung fällt es uns schwer, unser Motto «Hoffnung säen» zu leben und zu vermitteln. Und doch ist dies so notwendig; die Menschen um uns herum brauchen es! Wir sehen immer noch kein Licht am Ende des Tunnels. Die Grossmächte haben andere Prioritäten und die syrische Frage ist für sie nicht mehr vorrangig. Syrien ist zu einem «vergessenen Land» geworden. Die Regionalmächte nutzen den Syrienkonflikt, um ihre Interessen in der Region voranzutreiben. Es ist gut, dass einige arabische und andere Länder über das manichäische Denken hinausgehen, welches besagt, dass es auf der einen Seite nur Gute und auf der anderen Seite nur Böse gibt. Diese Länder haben ihre Beziehungen zu Syrien wieder aufgenommen. Jetzt liegt es an den westlichen Staaten, es ihnen gleich zu tun, damit ein Dialog zur Beilegung des Konflikts hin zum Frieden beginnen kann.

Der Autor Dr. Nabil Antaki leitet in Syrien die Bewegung der „Blauen Maristen“ und ist ein langjähriger Projektpartner von CSI. Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Fassung seines „Brief aus Aleppo Nr. 44“. Dr. Antakis Bruder wurde vom IS getötet, der Rest der Familie und die meisten seiner Freunde haben das Land verlassen. Seine Frau Leyla und er sind entschlossen im Land zu bleiben, um «Hoffnung zu säen».

Petition gegen Syrien-Sanktionen.

Nabil Antaki prangert die Sanktionen an. 

Die wahre Friedensquelle

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